1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Bilder aus Süd-Europa.
Landhäusern auf die Berge hinaufgestellt, dieses mit seinen Kuppeln
und Türmen im üppigsten Thal verbreitet und von braunen, ernsten
plastischen Bergeu unbeschreiblich schön eingefaßt, welche zu beiden
Seiten des Kap Pellegrino und das Vorgebirge Zaffaraua in nicht
zu großer Weite in das Meer hinausstrecken. Sie machen also ein
Bild, dessen Farbenreichtum sowohl als dessen Formen das Auge ent-
zücken : Bei Neapel ist alles Weite, ja fast iu Licht schwimmende Un-
endlichkeit, welche die Sinne mit sich fortreißt und dem zerteilten Blick
keine Ruhe gestatten will. Wo man nnn auch seinen Standpunkt
wählen mag, um Neapel anzuschauen, auf dem Kastell San Elmo, auf
Camaldoli oder auf dem Vesuv selber — und dies sind die erhabensten
Standpunkte für dieses wunderbarste Panorama der Erde, — überall
wird sich Neapel selbst als Stadt formlos im Unendlichen verlieren,
überall die Landschaft und das Meer übermächtig und bewältigend
hervortreten. Die ungeheure Häusermasse, welche sich um den Golf
ergosfen hat, wirkt nicht durch ihre architektonischen Formen, sondern
durch die Vorstellung oou schrankenloser Ausdehnung, welche hier das
Menschenleben iu einer elysischen Natur genommen hat. Lage und
Aussicht ist dem Menschen hier genug; und es scheint, als hätte er in der
Bewunderung so allbewältigender Herrlichkeiten und in oer Entzückung
an dieseni Natnrschanspiele seine Hände in den Schoß gelegt und es
aufgegeben, mit der Natur iu erhabenen Werken zu wetteifern. Nichts
strebt aus diesem Häusermeer Neapels auf, endlos dehnen sich die platten
Dächer, ebensoviel Schauplätze, auf denen man des Anschauens froh
werden kann, wenige Kirchenknppeln, und diese winzig und unscheinbar,
fast nirgend ein Turm, unterbrechen die Einförmigkeit der horizontalen
Linie. Unvergleichlich viel fchöner und malerischer nimmt sich Kon-
stantinopel aus, dessen zahllose Kuppeln sich über die Stadt auf-
schwingen und dessen schlanke Minarete über die Cypressen und Pinien
sich hinwegstreckend dem Gemälde der Stadt einen größeren Reiz geben.
Es ist mir diese architektonische Unterschiedlosigkeit, ja völlige Un-
bedentendheit Neapels immer höchst wesentlich für seinen Begriff er-
schienen. Sie spiegelt so vollständig auch die Geschichte Neapels ab,
den Unbestand und Wechsel flüchtiger Herrschaften, das Unorganische,
die Unentschiedenheit, die Bestimmnngslosigkeit des Volksgeistes für
irgend eine kulturgeschichtliche Aufgabe, Passivität und Gennß, das
Gegenwärtige, höchste Lebendigkeit der Sinne und allgemeine, heitere
Lebensentfaltung. Die Geschichte hat hier keine Form gewonnen; des-
halb ist auch die Stadt formlos und unmonnmental im höchsten Grade.
Weder der Geist der flüchtigen Herrscherdynastieen, noch der Volksgeist
hat sich hier in bestimmten Monumenten ausgesprochen; denn Monn-
mente sind im höchsten nationalen Sinne Denkmäler von Kultur-
prineipien, sinnliche Darstellungen des innern Wesens, der lebendigen
Jdeeen, welche eine Zeit beherrscht haben oder noch beherrschen. Es
ist für Neapel höchst charakteristisch, daß seine vorzüglichste Kultur-
leistung der Musik angehört. Searlatti und sein Schüler Porpora,
Leonardo Leo, Francesco Duraute, Pergolese, Paisiello und Cimarosa