1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Der Vesuv. 197
sie niemals weichen — so stand sie unheildrohend da, einen grausigen
Schatten über Himmel und Erde werfend.
Wird sie uns verderben? Wird sie all dieses blühende Leben
unter ihrer Asche begraben?
Der Anblick ist großartig und schreckenvoll zugleich. Das Volk
läuft in Scharen herbei. Es füllt die Straßen, die Plätze, die Dächer
und staunt das Ungeheuer an; aber es ist wie gebannt von einem nn-
heimlichen Gefühl. Es staunt und schweigt, während die Wolke über
seinen Häuptern lastet.
Nun beginnen die Donner des Vulkans. Anfangs grollen sie leise
und unterbrochen, dann wachsen sie stärker und stärker an, und endlich
dröhnen sie wie Tausende von Kanonen, ohne Aufhören und mit immer
erneuter und unerschöpflicher Wnt. Die Stadt Neapel liegt volle zwei
Meilen vom Vesuv entfernt, aber die Häuser zittern in den Grundfesten,
die Fenster klirren fortwährend, die leichten Zimmerdecken schwanken
und knistern verräterisch. Hier und da zeigen sich Risse in den Mauern,
Gesimse fallen herab. Das leicht erregbare Volk schreit laut auf, flieht
aus den Häusern und ringt die Hände. „Zur Madonna! Zur Ma-
douna!" so rufen die einen, während die anderen mit wildem Geschrei
nach dem Hafen rennen.
Inzwischen verbreitet sich die Kunde, daß viele Deutsche, Engländer
und andere Fremde samt Neapolitanern, welche Abends vorher den
Vesuv bestiegen haben, verunglückt sind. Heißer Schlamm und glühende
Lavastücke haben die Unvorsichtigen überschüttet, verbrannt und getötet.
Auch mehrere Anwohner des Berges sollen ihr Leben eingebüßt haben.
Man nennt ihre Namen, und die schnellzüngige Fama verbreitet und
übertreibt die Gerüchte. Von den Ortschaften Torre del Greeo, Ponti-
eelli, Somma Vesuviana und anderen, welche durch die Lava bedroht
sind, laufen Telegramme ein, worin um Hülfe gebeten wird.
Sofort beeilen sich die Behörden der Stadt, den verlangten Bei-
stand zu leisten. Es werden Sicherheitswachen angeordnet, Ärzte, Sol-
daten und Polizeibeamte ausgesendet. Wagen, Karren, Sänften, Reiter
zu Pferde und zu Esel bedecken den Weg nach Portiei. Ihnen entgegen
ziehen schon Hunderte von Fuhrwerken, bespannt mit Ochsen, Eseln,
Pferden und Mauleseln, welche die gerettete Habe davonschleppen und
nach Neapel, nach Castellamare und anderswohin führen: armseligen
Hausrat und namentlich Betten, das teuerste Gut der Armen. Andere
fliehen zu Fuß und tragen Kleider und Matratzenbündel hoch auf dem
Kopfe. Männer treiben das Hausvieh, die Frauen nebenher haben ein
Kind an der Hand, ein anderes auf dem Arme. Alle diese Bedrängten
haben eine entsetzliche Nacht verlebt, wie ihre fahlen Gesichter mit dem
Ausdruck der Angst und der Erschlaffung beweisen. Manche sind so
ermüdet, daß sie sich an irgend einem Hause oder au einer Mauer zur
Ruhe legen; andere stehen still und schauen weinend nach ihren brennenden
Häusern zurück. Diese braunen Männer mit den dunkeln Fischermützen
und den schönen Gesichtszügen sind flüchtige Torresen, welche sich durch
Korallensischerei an den Küsten Afrikas ernähren Jene Bauern mit