1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Lissabon.
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immer in den glücklichen Kreisen des europäischen Südens ist; kein
Lüftchen regte sich; aber 57 Minuten auf 10 Uhr hörte man es in
den Straßen rollen, gleich als ob Karossen hinabrollten; zugleich bebte
die Erde mit gewaltig wogender Bewegung. Es war gerade der Festtag
Allerheiligen; die Einwohner hatten sich zahlreich in den Kirchen ver-
sammelt, als das Unglück losbrach. Die kurze Zeit von zehn Minuten
war hinreichend, die schönsten Paläste, die herrlichsten Kirchen und
Privatgebäude in bejammernswürdige Trümmer zu verwandeln, unter
denen Tausende ihren Tod fanden. Gleich bei der ersten Erschütterung
stürzte die „Easa sauta", das Haus der Inquisition, ein; dem könig-
lichen Palast ging es nicht besser, er ward mit allen Kostbarkeiten, die
er enthielt, von der Erde verschlungen, ein Verlust, den man allein auf
zwölf Millionen Mark berechnete. Zum Glück befand sich die königliche
Familie zu Belem, dem reichen Kloster au der Mündung des Tajo,
westlich von Lissabon. Das prächtige Jesuileukollegium begrub unter
seinen Trümmern alle darin befindlichen Mitglieder der Gesellschaft.
Größeres Unglück und ein nicht zu berechnender Verlust brach in der
Nähe des Zollhauses aus, wo ein großer Quai war; auf ihm hatten
die köstlichen Flotten von Brasilien, Ostindien und Afrika Ballen, Kisten
und Säcke voll seltener Erzeugnisse für den Gebrauch der nördlichen
Welt aufgehäuft; hier lagen Millionen in Waren, und um diese Güter
schwärmten von Tagesanbruch bis in die Nacht an sechshundert Reeder,
Schiffer, Diener, Beamte, Matrosen aus allen Ländern. Die Erde
bebt, und binnen einer Minute versinkt dieser Quai, ohne daß nur eine
Seele entkommt, Wasser tritt an die Stelle, jede Spur des großen
Platzes ist verschwunden. Der Schrecken, das Jammern und Wehklagen,
das vou allen Seiten ertönte, geht über alle Beschreibung; die Leute
liefen in die Straßen und streckten ihre Arme gen Himmel, um Guade
stehend; viele suchten einen der offenen Plätze oder die Landstraße zu
erreichen und rannten, zum Teil halb nackt, über die Trümmer hinweg.
Greise, Frauen, Kinder, Kranke, die noch in ihren Betten lagen, wurden
erstickt, ohue daß man ihnen Hilfe leisten konnte, oder wurden zer-
schmettert, verschüttet und so zum schmählichsten, schaudervollsten Tode,
dem Tode des Hungers, verdammt. Pferde und Rinder waren uuhalt-
bar, zerrissen die Stränge und suchten vergeblich mit ihren Reitern der
Zerstörung zu eutslieheu, die unvermeidlich schien. Ganze Gruppen,
die sich auf der Flucht befaudeu, wurden vom Hagel der Ziegelsteine
und Werkstücke erreicht oder von dem Falle erschütterter Gebäude zer-
malmt. Ein Haufe lief nach der Terra de Passa, dem Platze am
königlichen Palaste, um von hier auf die Schiffe zu eilen; aber sie
stürzten schnell zurück, weil der Tajo sich plötzlich zu eiuer Höhe von
20^ bis 30 Fuß erhob. Es gehört unter die gräßlichsten Wunder
dieses Tages, daß der Fluß blitzähnlich so anschwoll und dann eben
so geschwind zurücktrat; Schiffe, die in sechs Klafter Tiefe gelegen
hatten, wurden auf den nackten Boden gesetzt. Diese über allen Aus-
druck grausenvolle Flut und Ebbe kehrte an diesem Tage vielmal zurück.
Etliche Boote wurden gleich verschluugen; aus der königliche»« Werst