1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Bilder aus dem mittleren Europa,
„Der Kopf thut's halt nimmer mehr", dies ist eine sehr gewöhn-
liche Antwort, die man von alten Älplern empfängt, wenn sie sagen
wollen, daß sie nicht mehr in die schroffen Berge gehen können. Sie
deuten auf den Schwindel hin, der sie im Alter leichter ergreift als
in der Jugend. Es ist die für den Alpensteiger schlimmste Gefahr;
weder unsere Dachdecker, noch unsere Turmbauer kennen ihn in dem
Grade, weil die Abgründe, welche sie unter sich haben, noch immer
unbedeutend sind gegen die furchtbaren Schlünde und Tiefen, die in
den Alpen einen angähnen. Schwindellosigkeit und Mut sind daher
dem Alpensteiger ebenso nötig wie Gewandheit und ein sicherer Gang.
In der That sind die Gebirgswege mitunter haarsträubend. Es wird
hier schon als eine überflüssige Breite der Fußwege gepriesen, wenn sie
so breit sind, daß die ganze Sohle des Fußes darauf Platz hat. Ge-
wohnlich klagt der Alpensteiger schon nicht, wenn überall die Hälfte
seiner Fußsohle Raum gewinnen kann.
Alles, was ich mit dem Fernrohre sah, begleitete mein Alter mit
Anmerkungen aus dem Schatzkästlein seiner Lebenserfahrungen. „In
jenem Eise dort auf der übergossenen Alpe," fagte er, „giebt es eine Menge
tiefer Spalten, Grotten und Schluchten. Vor sehr langer Zeit habe
ich mich einmal an Stricken in einen solchen Spalt hinabgelassen, weil
uns ein Gams'l hineingefallen war. Meine Freunde hielten den Strick,
und ich fand das Gams'l richtig in der Tiefe, wo die Spalte in einer
ganz ausgewaschenen Unterhöhlung endigte. Es ging hier unten ein
sehr starker Wiud unter dem Eise weg. Ja, ein Wind war es nicht,
sondern ein Sturm, eiu furchtbar heulender Sturm, der durch alle
Eislöcher hindurch pfiff. Sehr kalt schien er aber mir nicht zu sein.
Ich packte das Gams'l, und meine Freunde zogen mich wieder hinauf."
Von dem steinernen Meere aus machten wir mit dem Fernrohre
einen tüchtigen Satz über einen tiefen Abgrund zum Täuueugebirge.
Dies ist eine vollkommen wüste und unbewohnte, steinige und eisige
Hochgebirgsmasse von vier Stunden Länge und zwei Stunden Breite.
In dieser Ausdehnung ist es auf allen Seiten von Flüssen und Thälern
rundumher umschlossen, und gegen diese Thäler fällt es überall hin
mit furchtbar steilen Wänden ab. Es hat etwa die Gestalt einer hohen
Königsburg. Nimmt man an, daß der Boden der umliegenden Thäler
etwa 430 m über dem Meere liegt, so heben sich die Gemäuer jenes
gewaltigen Gebäudes 1700 m über diese Thäler hiuaus, und man kann
sich danach einem Begriff von ihrer Größe machen. Es schwindelt einem,
wenn man die schroffen Wände und Schlünde mit dem Fernrohre
untersucht.
„Ans einem Spaziergange daran hinauf," fagte mein Alter, „giebt's
hundertmal Gelegenheit, den Hals zu brechen. Und geht man hinunter,
so glaubt man oft, man sei schon uuteu. und doch kommen immer noch
einige unbedeutende Absätze, die hoch geuug sind, um bei einem Fehl-
tritte alle Glieder zu zerschlagen. Geht man aber hinauf, so ist dort
oben zuweilen ein Wind, daß einem die Knöpfe und Litzen vom Rocke
gerissen werden und die Nafe im Gesichte schwankt."