1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Bilder aus dem Deutschen Reiche.
gutes Teil Fremdsucht hervor, die mit anderen Volksweisen eine Art
Götzendienst treibt, ein widerliches Nachaffen des fremden, plump auf-
gefaßten Elements, und ebenso der Wandersinn, der den Deutschen in
die weite Welt hinausführt und leicht zur Weltläuferei wird.
Sodann hängt mit diesem Bestreben, die ganze Welt zu verstehen,
besonders aber mit seiner Richtung nach der Tiefe, nach dem Innersten
der Dinge, seine Vorliebe für alles Studieren, besonders aber
sür die Philosophie zusammen, sowie mit der letzteren seine Neiguug
zur Träumerei und Schwärmerei. Und ebenso seine oft übertriebene
Gründlichkeit, sowie sein Aberglaube an die Macht des beschriebenen
Papiers und sein naives Zntranen, als habe jedermann die gleiche
Rechtsachtung. — Die Deutschen sind dadurch anderen, praktischeren
Nationen, den Engländern, Franzosen, Holländern, Italienern n. s. w.,
nicht allein das Ziel ihres Spottes geworden, weil sie z. B. für alle
Welt ein Interesse haben können, das sie ganz hinnimmt, während sie
für ihre eigene Heimat wie blind sind; oft haben sie auch durch das
thatenlose Zuwarten, das grundlose Wünschen und Hoffen, das unent-
schlossene Hin- und Herdenken und Reden, sowie durch das unmännliche
Sich-Schmiegen die wichtigsten Wendepunkte und Entscheidungszeiten
verloren gehen lassen, und ein großer Teil ihrer Unmacht hatte ihren
Grund darin, daß sie über dem Denken und Schreiben das Handeln
vergaßen.
Ein anderes altes Laster ist die Trnnkliebe, der deutsche Sauf-
teufel, wie es Luther nennt. Überhaupt läßt sich der Deutsche im Ge-
nnsse gerne gehen; und wenn er einmal gesunken ist, schämt er sich auch
der Gemeinheit weniger als andere Völker, er kann dann mit ihr groß-
thun. Am leichtesten begegnet ihm das fern von der Heimat, daher der
Vorwurf deutscher Charakterlosigkeit, den uns die Nachbarn machen,
seinen guten Grund hat. Ein Franzose oder Engländer mag so schlecht
sein als ein Deutscher; er hütet sich doch, den Namen seiner Nation
zu beschimpfen, auch wenn ihm fchon die Selbstachtung verschwunden ist.
Davon hält den liederlichen Deutschen keine Rücksicht ab; hat er das
Vaterhaus und seinen Gott vergessen, sv läßt ihn sein Mangel an Ge-
meingefühl schnell aufs tiefste sinken. Daher wissen schon alte Sprich-
Wörter den verwälschten Deutschen nicht schwarz genug zu schildern
(Tedesco Italianato diavolo incarnato).
Dagegen wurde der deutschen Nation durch ihre glückliche Begabung
auch der Beruf, vielen Völkern das Christentum zu bringen, sowohl
in der Form des Romanismus als in der geläuterten Gestalt der Re-
formation. Strebt sie auch in jetziger Zeit mehr einem Ideal von
allgemeiner Bildung (Humanität) als dem Glauben nach, so wollen doch
Kenner bemerkt haben, daß man dem Deutschen nicht mit Atheismus
kommen dürfe; ein tiefes Gefühl sagt ihm, daß er einen Gott brauche.
Der allein hat auch dem deutscheu Volke zur Erreichung vou so viel
Einheit und Freiheit geholfen, als ihm gut und nötig ist; seine Ge-
lehrten und Künstler vermochten es nicht.