1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Der Rheinstrom. 29
ihm mächtige Wasserspenden zu bringen und sich dafür in seinem Ge-
biet ein neues Land zu erbauen.
An den Wiegen des Rheins erklingen die Gesänge armer, aber
freier und froher Hirten; an seinen Mündungen zimmert ein ebenso
freies, dabei reiches, kunstsinniges, gewerbfleißiges, unternehmendes Volk
seine schwimmenden Häuser, welche die fernsten Länder und Meere be-
schiffen und einst beherrscht haben. Wo ist der Strom, der eine
Schweiz an seinen Quellen, ein Holland an seinen Mündungen hätte,
den seine Bahn so durch lauter fruchtbare, freie, gebildete Landschaften
führte? Habeu andere weit größere Wasserfülle und Breite, so hat
der Rhein klare, immer volle, sich fast gleich bleibende Fluten, so ist
seine Breite gerade die rechte, hinreichend für Floh und Schiff, für
allen Verkehr der Völker, und doch nicht fo groß, daß sie die beiden
User voneinander schiede, daß nicht der erkennende Blick, der laute Ruf
ungehindert hinüberreichte. Mächtig und ehrfurchtgebietend erscheint er
als ein bewegter Wasserspiegel, in den heitersten Rahmen gefaßt, nicht
als eine wässrige Öde mit nebeligen Ufern.
Der Rheinstrom ist recht eigentlich der Strom des mittleren
Europas. An seinen alpinischen Quellen begegnen sich Burgund, Italien,
das südliche Deutschland. Seine ozeanische Niederung schiebt sich zwischen
den Norden Frankreichs und die Ebenen des alten Sachfenlandes ein
und führt zu den britischen Inseln hinüber. Aus der schönen Strom-
ebene des mittleren Rheines, einem bergummauerten Zentralgebiet,
führen natürliche Wasserstraßen durch lange, enge Felsenthore zu reichen,
herrlichen Landschaften, tief in das innerste Deutschland und Frankreich
hinein. Die Mosel auf der linken, der Main auf der rechten Seite
verbinden Franken und Lothringen. Der Rheinstrom selber aber und
seine Ufer sind die große Handels- und Reisestraße zwischen Süden
und Norden, zwischen Holland und der Schweiz, England und Italien,
die eine immer größere Bedeutung erhält, je inniger und lebendiger
die Berührungen aller Art zwischen den verschiedenen Gliedern des
europäischen Staatensystems werden.
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In den rhätischen Alpen entspringt, gleich einem nngezähmten
Knaben, von dessen jugendlichem Leichtsinn und Unsng alle Bewohner
seines Heimatlandes zu erzählen wissen, der vielbesungene Rhein.
Zwischen Eis- und Schneefeldern braust er dahin wie tausend andere
Bergwasser des Schweizerlandes, und niemand ahnt an der Wiege dieses
Wilden seine einstige Größe. Rauschend stößt der Unbändige seine Stirn
an schroffe Felsenwände; in Wasserfällen eilt er seinem Ziele zu, wo
ihn andere wilde Brüder erwarten, um mit ihm die ruhmvolle Bahn
fortzusetzen. Mit immer erneuter Gewalt, mit wachsender Kraft drängt
er sich nun unter donnerähnlichem Getöse durch die furchtbarsten Ab-
gründe, an deren Rande sich die Viamala hinwendet, und über deren
schwindelnden Höhen Brücken liegen, welche der Fnß des Wanderers mit
Zittern und Beben betritt; denn unergründliche Schluchten unter den-