1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Die Pfalz und die Pfälzer. 75
Ende Mai beginnt schon die Zeit der Frühkirschen, und bald rückt
die Heuernte heran und erfüllt das ganze schöne Thal mit Lust, Leben
und Arbeit. Der „Kannstag" (Johannistag) bezeichnet die „Snnnwend"
des Sommers; er ist in der Erinnerung des Volkes noch immer ein
heiliger Tag; die Leute sagen, man müsse sich an ihm vor Unglück in
acht nehmen. Leider ist vom schönen altgermanischen „Johannisfeuer"
keine Spur mehr vorhanden: auch hier trat die Polizei vernichtend ein,
ohne daran zu denken, welche ehrwürdige, ja heilige und sinnige Sitte
sie vertilgte. Daß dabei ein paar Holzscheite verbrannt wurden, wäre
doch ein gar zu armseliger Grund.
Am ersten sonnigen Sonntag des Jahres, wenn an den Berg-
Halden noch hier und da der Schnee liegt, kommen die Kinder herauf
in den Schloßhof der Ruine, — oben, so recht im Angesichte der er-
wachenden Natur, wollen sie ihre ersten Sommerspiele beginnen, während
andere an den Felsen und Schloßmauern Süßholz suchen, und die
Mädchen Epheukreuze winden. So spielt und freut sich die frisch
heranwachsende Jugend inmitten der Ruinen einer vergangenen Zeit.
Ein Maiensonntag, überhaupt ein Sonntag im Sommer auf dem Lande
ist ein Tag voll idyllischen Lebens. Das zeigt der alte Bauer, der in
der heilig stillen Sonntagsfrühe noch vor dem Gottesdienste hinaus-
wandert in die grüne blühende Flur. Jetzt überschaut er mit freudigem
Danke die Flur, wo er die Woche über im Schweiße seines Angesichts
gearbeitet. Wer ihm begegnet, hört von ihm das Lob der Natur
Gottes, während vom Dorfe her die Störche klappern, die Kirchenglocken
läuten und der Rauch still in blauen Wölkchen am Schloßberg empor-
wirbelt. — In aller Frühe sind aber die Kinder schon dort auf die
waldige Spitze des sogenannten „Schlößchens" hinter der Irrenanstalt
gezogen, wo auf deu Trümmern einer heidnischen Urzeit die „Mai-
glöckchen" am duftigsten blühen. Halb schaudernd denken sie an die
weiße Frau, die sich dort oft sehen läßt.
Im Dorfe selbst pflücken sich die Weiber und Mädchen vor dem
Kirchgange noch im Hausgärtchen Sträuße von den „Nägelsbäumen",*)
Gelbveigeln und Grasrosenstöcken, und dann duftet die ganze weite
Kirchenhalle vom Frühlingsatem. — Wie lebhaft wird's dann erst abends
zur Rosenzeit und zur Zeit der Rebenblüte; die feinsten Düfte wehen
von den Weinbergen herüber und schweben um die Häuser, wo die
Leute im Freien sitzen, während die Jugend siugeud und jubelud durch
die Flur und zum Schlosse emporzieht. Die „Betglocke" läutet dann
feierlich vom Dorfe herauf in der Dämmerung; alle kleineren Buben
und Mädchen eilen heim. Die anderen folgen mit hellklingenden alten
Liedern, während die Eltern vor den Häusern sitzend sich dessen freuen
und an ihre eigenen Jugendtage denken.
Um diese Zeit, um Himmelfahrt und Psingften, beginnen dann
auch die Prozessionen der Katholiken durch die Flur über Hügel und
*) Nelkenstöcken.