1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
I
324 Bilder aus dem norddeutschen Gebirgslande,
Hirt damit, bis die Sonne den Tau vom Grase völlig wieder anfge-
sogen hat. Erst wenn die Waldweide beginnt, erfolgt der Ausbruch
etwas früher, doch im Hochsommer kaum vor 6 oder 5^ Uhr.
Dann erscheint der Hirt mit mächtigem Kupferhorn auf der Straße,
um seine Herde zusammenzurufen. Tief Atem holend, setzt er es an,
stößt hinein und hält den Ton, solange seine Lungen es gestatten wollen.
Zwei- oder dreimal klingt's so tief schauerlich durch die Straßen der
Bergstadt.
Der Hirt ist mit einein schmucken schwarzen Leinwandskittel be-
kleidet, der fast bis auf die kleidsamen grauen Gamaschen niederfällt.
Gegen Regen und Sonne schützt er Gesicht und Nacken durch einen
breitkrempigen schwarzen Filzhut. Zu seiner Ausrüstung gehört ein
langer Stecken ohne Handgriff (seltener die kurzgestielte Peitsche), ein
handliches scharfes Beil, das, an der Schneide mit einem Futteral aus Hirsch-
Horn verwahrt, an einem über die rechte Schulter mit blanken Messing-
schildern verzierten schwarzen Lederbande ihm an der Seite hängt — er
gebraucht es, um die Kühe loszuhacken, wenn sie sich mit den Hörnern
im Gestrüpp oder mit den Füßen im Wurzelgeslecht verwickelt haben;
ein ausgerollter starker Lederriemeu zum Einsangen wild werdender Kühe
und ein scharfes Messer zum Schlachten der verunglückten. Ebenso sind
Knecht und Junge gekleidet, doch führen sie kein Beil. Außer ihnen
hilft ihm ein zottiger Hund beim Führen und Bewachen der Herde.
Schon die äußere Erscheinung des Hirten beweist, daß er nicht
einem jener ärmlichen „Hirtenhäuser" entstammt, wie sie die Landge-
meinden ihren Hirten, die vor den Armenhäuslern wenig voraus zu
haben pflegen, zum Wohnsitz einräumen. Die Oberharzer Hirten sind
durchweg bemittelte, angesehene Bürger, Besitzer oft stattlicher Häuser
(in Klausthal mehrfach Inhaber eines Gasthofes) und eines wertvollen
„Viehstapels". Sie halten regelmäßig die Ochsen für ihre Herden und
fuchen es einander in Stellung der schönsten, kräftigsten Tiere reiner
Rasse hervorzuthuu. Im Winter betreiben sie mit ihren Knechten das
Fleischergewerbe und die Hausschlcichterei.
Sobald die Horntöne verklungen sind, springen die Kühe aus
den Häusern hervor und begrüßen sich gegenseitig mit freudigem Gebrüll.
Bis auf einige hellgraue Tiere Glaruer oder Allgäuer Rasse, sind sie
ausnahmlos rot- oder hellbraun, und ihre Hörner, deren Spitzen nach
oben gerichtet sind, stehen weit auseinander. Die Erfahrung hat be-
wiesen, daß die reine Harzrasse für unser Gebirge die geeignetste ist.
Ist auch das tägliche Milchquautum einer großen Landkuh größer, so
hat doch die Milch der Harzkühe eiuen etwa 25°/0 höheren Fettgehalt.
Man sieht deshalb jetzt von jeder Kreuzung und von Versuchen mit
anderen Gebirgsrassen ab. — die gewöhnlichen Landkühe würden _ schon
um deswillen auf dem Harze zu Grunde gehen, weil ihre breiteren,
weicheren Füße den rauhen, steinigen Gebirgswegen nicht gewachsen
sind. Die königliche Regierung wie die landwirtschaftlichen Vereine
wenden seit einem Jahrzehnt der Aufzucht einer kräftigen Rasse, der
Oberharzer Wiesenknltnr und der Milchwirtschaft ihr besonderes Interesse