1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
332
Bilder aus dem norddeutschen Gebirgskunde,
Augenwimpern flimmerten eben so kostbare Perlen, wie in den Gräsern
des Thales. Morgentau feuchtete meine Wangen, die rauschenden
Tannen verstanden mich, ihre Zweige thaten sich von einander, bewegten
sich hinauf und herab, gleich stummen Menschen, die mit den Händen
ihre Freude bezeigen, und in der Ferne klang's wunderbar geheimnis-
voll, wie Glockengeläute einer verlorenen Waldkirche. Man sagte, das seien
die Herdenglöckchen, die im Harz so lieblich, klar und rein gestimmt sind.
Nach dem Stande der Sonne war es Mittag, als ich auf eine
solche Herde stieß, und der Hirt, ein freundlicher, blonder, junger Mensch,
sagte mir, der große Berg, an dessen Fuß ich stünde, sei der alte, welt-
berühmte Brocken. Stunden weit ringsum liegt kein Haus, und ich
war froh genug, daß mich der junge Mensch einlud, mit ihm zu essen.
Wir setzten uns nieder zu einer Mahlzeit, die aus Käse und Brot be<
stand; die Schäfchen erhaschten die Krumen, die lieben, blanken Kühlein
sprangen um uns herum, klingelten schelmisch mit ihren Glöckchen und
lachten uns an mit ihren großen, vergnügten Augen.
Wir tafelten recht königlich, nahmen darauf recht freundschaftlich
Abschied, und fröhlich stieg ich den Berg hinauf. Bald empfing mich
eine Waldung himmelhoher Tannen, für die ich in jeder Hinsicht Respekt
habe. Diesen Bäumen ist nämlich das Wachsen nicht so ganz leicht
gemacht worden, und sie haben es sich in der Jugend sauer werden
lassen. Der Berg ist hier mit vielen großen Granitblöcken übersät, und
die meisten Bäum mußten mit ihren Wurzeln diese Steine umranken
oder sprengen und mühsam den Boden suchen, woraus sie Nahrung
schöpfen können. Hier und da liegen die Steine, gleichsam ein Thor
bildend, über einander, und oben darauf stehen die Bäume, die nackten
Wurzeln über jene Steinpforte hinziehend und erst am Fuße derselben
den Boden erfassend, so daß sie in der freien Luft zu wachsen scheinen.
Und doch haben sie sich zu jener gewaltigen Höhe emporgeschwungen,
und, mit den umklammerten Steinen wie zusammengewachsen, stehen
sie fester als ihre bequemen Kollegen im zahmen Forstboden des
flachen Landes. — Auf den Zweigen der Tannen kletterten Eichhörn-
chen, und unter denselben spazierten die rotbraunen Hirsche. Wenn ich
solch ein liebes, edles Tier sehe, so kann ich nicht begreifen, wie ge-
bildete Leute Vergnügen daran finden, es zu hetzen und zu töten.
Allerliebst schössen die goldenen Sonnenlichter durch das dichte
Tannengrün. Eine natürliche Treppe bildeten die Baumwurzeln.
Überall schwellende Moosbänke; denn die Steine sind fußhoch von den
schönsten Moosarten wie mit hellgrünen Sammetpolstern bewachsen.
Liebliche Kühle und träumerisches Quellengemurmel! Hie und da sieht
man, wie das Wasser unter den Steinen silberhell hinrieselt und die
nackten Baumwurzeln und Fasern bespült. Wenn man sich nach diesem
Treiben hinabbeugt, so belauscht man gleichsam die geheime Bildnngs-
geschichte der Pflanzen und das ruhige Herzklopfen des Berges. An
manchen Orten sprudelt das Wasser aus den Steinen und Wurzeln
stärker hervor und bildet kleine Wasserfälle. Da läßt sich gut sitzen.
Es murmelt und rauscht so wunderbar, die Vögel singen abgebrochene