1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Berlin.
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der Hohenzollern ragt und Hinübersicht nach dem „Großen Kurfürsten",
dort nach dem „alten Fritz", bei dem in der Nähe die Helden der
Freiheitskriege um den alten Blücher ihre Standplätze gefunden haben.
Berlin macht in seinen meisten Teilen nicht den Eindruck, daß es
„gelebt hat", wie andere Großstädte. Auch diese haben Partieen, die
diesen Charakter tragen, aber daneben viele ehrwürdige und großartige
Erinnerungen an eine frühe Vergangenheit. Mitten aus dem Gewühl
und Getreibe der Neuzeit hebt Notre Dame ihre ehrwürdigen Stumpf-
türme, schießt die Pyramide des Stephan aus: Berlin hat wenig
Kirchen, wiewohl ihre Zahl sich seit dreißig Jahren mehr als verdoppelt
hat, und unter den alten ist keine ausgezeichnet. Wie die Hauptstadt
nicht von serne durch einen Wald von Türmen angekündigt wird, so
durchdringen im Innern die meist dünnen Kirchenglocken nicht das
Getöse eines großstädtischen Verkehrs. Auch sonst ragen keine groß-
artigen Reste aus einer mittelalterlichen Vergangenheit in die Gegenwart
hinein; sie erscheint poesielos, ohne jegliche Romantik, modern und —
gemacht.
Aber die bloß von Kunst und Laune und ohne Rücksicht auf
bleibende Naturverhältuiffe begründeten Städte und Sammelplätze der
Bevölkerung haben begreiflicherweise eine geringere Dauer als die, bei
denen die Natur selber das entscheidende Wort sprach. Jene wechseln
und vergehen mit den Persönlichkeiten und mit dem Wandel der poli-
tischen Verhältnisse, diese sind in ihrer Bedeutung und Größe bleibender,
wie die Natur selbst es ist.
Gehört nun Berlin zu den launenhaften Städteschöpfungen, so sind
doch die Kolonisten und Bürger den Fingerzeigen und Anordnungen
der Fürsten, wenn man den Bauzwang unter Friedrich Wilhelm I.
nicht zu stark betont, äußerst willig gefolgt. Die Fürsten sind es nicht
müde geworden, an diesem Fleck immer neue Bauten zu unternehmen
und ungeheuere Kapitalien zu seiner Förderung aufzuwenden, was der
einer entschiedenen Ungunst der Lage doch am Ende gewiß der Fall
gewesen wäre. Handel, Gewerbe, freie Künste und alle anderen Bevöl-
kernngselemente, die nicht den Befehlen zu folgen gewohnt sind, haben
sich bis auf die letzten Tage herab in Menge neben den Machthabern
angesiedelt und werden sich voraussichtlich infolge der Ereignisse der
letzten Jahrzehnte in immer höherem Maße hier konzentrieren. Es
muß daher wohl in der Lage Berlins noch etwas anderes als fürst-
liches Belieben, es muß wohl auch viel nicht sogleich in die Augen
springende Naturnotwendigkeit in ihr zu erkennen sein. Bei genauerem
Nachforschen werden in der Gestaltung und Gliederung der Berlin
umgebenden Landschaften und Gewässer, in der Richtung der mehr oder
weniger benachbarten und entfernten Flußliuien, in der Stellung der
^tadt zu den von ihr aus erreichbaren Meeresbecken und Seeküsten
und endlich in ihrem Verhältnisse zu dem Bevölkerungsgebiete des
gesamten Norddeutschlands gewisse natürliche und bleibende Umstände
zu Tage treten, die den Ort zu einem notwendigen und naturgemäßen
Kreuzungs- und Zentralpunkt des Verkehrs machten und die preußischen
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