1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Bilder aus der norddeutschen Tiefebene.
Zeitpächter oft in ihrer sehr gedrückten Lage noch an die Zeil der
früheren Hörigkeit erinnern. Ein großes Bauerndorf, in dem die bäner-
lichen Wirte mit ihren sechs bis acht Pferden und fünfzehn bis zwanzig
Kühen ihren Pachtzins an die groß^herzogliche Domänenkammer in
Schwerin zahlen müssen, womöglich in fruchtbarer Gegeud und fern
von dem großen Verkehr der Städte gelegen, eignet sich am besten dazu.
Die Zeit des Karnevals, in Norddeutschland überall „Fastelabend"
genannt, ist erschienen. Den ganzen Winter hindurch ist das männliche
wie weibliche Gesinde des Bauern, er selbst mit an der Spitze, Tag
sür Tag beschäftigt gewesen, von morgens drei Uhr an bis zum Beginn
der Feldarbeiten auf der Hausdiele die Getreidegarben mit den schweren
Dreschflegeln auszudreschen. Der Reisende, den eine Winternacht durch
ein Bauerndorf führt, kann von drei Uhr an aus jedem Hofe die takt-
mäßigen Schläge der Flegel weit erschallen hören. Kommt er näher,
so sieht er durch die sonst immer offene, weite, hohe, einem Scheunen-
thor gleichende Hausthür, wie zwei oder drei Knechte und ebensoviel
Mägde auf der nur von der Flamme des Feuerherdes matt beleuchteten
Diele stehen und rüstig ihre Flegel aus die vollen Getreidegarben
fallen lassen.
Jetzt endlich, Mitte Februar, ist das meiste Getreide ausgedroschen
und vom stattlichen Gespann in die Stadt gefahren, während der Bauer
die blanken, harten Goldstücke dafür sorgsam in einem langen Wollen-
strumpf, der im untersten Winkel der buutgemalten Lade verborgen
wird, aufbewahrt. Es ist Zeit, daß es einmal wieder Tanz und Lust-
barkeit giebt, damit die Knochen geschmeidig und die Gemüter frifch
bleiben. Ist doch der lange Winter gar zu einförmig vergangen, denn
im ganzen großen Dorf, durch welches keine befahrene Landstraße führt,
befindet sich kein einziges Wirtshaus. Was würde man in Süddeutsch-
land dazu sagen!
Einige Tage vor dem „Fastelabend" bemerkt man im Dorfe nn-
gewöhnliche Veränderungen; die „Großknechte" stecken eifriger wie je in
den Dämmerungsstunden in größeren und kleineren Gruppen aus der
Dorfstraße oder deu einzelnen Höfen zusammen und scheinen oft in sehr
hitzigen Beratungen begriffen zu sein. Ehrerbietig umstehen die „Mittel-
knechte", denen noch keine volle Stimme zukommt, diese Großwürden-
träger der dienstbotlichen Rangordnung und lauschen ihrer Worte,
während die „Pferdejungen" oder „Lüttknechte" und Knhhirtenjungen
als Sendboten von Versammlung zu Versammlung fliegen. Es gilt
die Festmarschälle zum Fastelabend unter den Knechten zu wählen.
Dieser Großknecht macht Anspruch „Gaffelträger" zu werden, weil er
der größte und stärkste im ganzen Dorfe ist. Jener will den „Butter-
korb" tragen, da er beim reichsten Bauer dient, dieser die „Branntwein-
slasche", weil er eine Jacke ganz mit silbernen Knöpfen hat, ein anderer,
weil sein Viergespann das beste im ganzen Dorfe ist. So geht es fort
und fort; jeder Kandidat hat seine Anhänger und wieder Gegner, und
es erfordert oft viele heftige Worte, ja selbst oft tüchtige Faustschläge,
bis alle Wahlen gehörig festgestellt sind. Auch die älteren Bauern