1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Bilder aus der norddeutschen Tiefebene.
Zwischen den Karpaten und Sudeten am Lieselberge bei dem
Dorfe Kotzlau quillt die Oder aus einem von finsteren Tannenwäldern
umgebenen Sumpfe als schmales Bächlein auf. Durch eiue Menge von
Zuflüssen aus den benachbarten Bergen verstärkt, durchrauscht sie
zwischen steilen und waldigen Anhohen, allmählich zum wilden Berg-
strom anwachsend, mit reißendem Gefälle ihr enges Thal. Bei Oderan
entwindet sie sich den Bergen und durchströmt das erweiterte Wiesen-
thal des fruchtbaren Kuhläudchens bis zum Einflüsse der Ostrawitza,
während sich die wellenförmigen Erhöhungen der Beskiden und des
Gesenkes von beiden Seiten her sanft verflachen. Nahe bei dem öfter-
reichischen Oderberg, wo sich drei große Eisenbahnstraßen von Berlin
und Schlesien, von Warschau und Galizien vereinigen, betritt sie das
preußische Gebiet, wendet sich mit ihrem Eintritt in das Tiefland bei
Ratibor, wo ihre Schiffbarkeit beginnt, nach Nordwest und verläßt diese
Richtung selten und nur aus kurze Zeit.
Die weite deutsche Tiefebene ist fortan ihr Stromgebiet. Einst
bis zu ihrer Mündung von wendischen Völkerschaften umgeben, ist sie
im Lauf der Jahrhunderte durch Eiuwanderuug ein rein deutscher
Strom geworden. In den Städten und Ortschaften an ihren Ufern
und weit nach Osten hin, deren Namen noch an die Zeiten der Wenden
erinnern, hört man nur deutsche Laute, im Nordeu ertöut die nieder-
deutsche Zunge, in Schlesien die Mundart mitteldeutscher Stämme;
selbst an der Ostgrenze Oberschlesiens weicht polnische Sitte und
Sprache allmählich der Weise des herrschenden Volkes. Nur in ihrem
Unterlaufe, greift die Oder mit der von dem nördlichen Vorlande der
Karpaten herkommenden Warthe tief nach Osten hinein und leitet durch
dieselbe iu gleicher Weise, wie von Südwesten her die Mosel das sran-
zösische Element mit dem deutschen vermittelt, von Südosten das slavi-
sche in das deutsche hinüber.
Die Oder hat in ihrem Unterlauf nicht bloß den langen, stillen
Kampf des Deutschtums und des Slaventnms gesehen; zwischen den
mächtigen Reichen Polen, Böhmen und dem emporstrebenden Branden-
bürg gestellt, bald diesem, bald jenem angehörig, gab sie mit ihrem
schleichen Stromgebiete den Kampfplatz her, auf dem die Entscheidung
der Völkergeschichte erfolgte. Von der Mongolenschlacht bei Wahlstatt
bis zu den Kämpfen des dreißigjährigen Krieges, von den drei heißen
schleichen Kriegen Friedrichs des Großen bis zu den Befreiungskämpfen
gegen Napoleon trügt Schlesien den Ruhm, eines der Hauptschlacht-
felder Deutschlands gewesen zu sein. Die Naturgaben des weiten
Landes, das der schiffbare Strom mit feinen zahlreichen Nebenflüssen
für Handel und Völkerverkehr öffnete, machten es zum Zankapfel der
umwohnenden Nationen.
Nach Ratibor erweitert sich das Thal der Oder, die Höhen treten
zurück, und nur niedere Ränder begleiten sie noch bis in die Nähe von
Oppeln. Zwischen Gebüsch und Wiesen schleicht der Fluß träge dahin,
an seiner Seite tote Arme und Lachen bildend. Auf beiden Ufern
stehen dichte Forsten, hier und da unterbrochen von Wiesen; der Boden