1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Bilder aus der norddeutschen Tiefebene.
aber die ungewohnte Weise stößt nicht ab, sie heimelt uns an. Ihre
Sprache hat keine Ähnlichkeit mit den in ihrer nächsten Umgebung ge-
sprochenen: der deutschen und slavischeu; sie erinnert wegen ihrer vollen
Wortsormen in ihrem Klange so auffallend an das Griechische, daß
man bei einer litauischen Predigt sich ebenso unnütz als nnabgesetzt
abmüht, sie zu verstehen, weil man meint, der Redner spreche griechisch.
Es giebt Menschen, die lieben Freunden und Verwandten so ähnlich
sind, daß man sie unaufhörlich ansehen muß, obgleich man sich sagt,
sie sind's nicht! Ähnlich ergeht es uns mit der litauischen Sprache.
Der mild-melodische Klang, noch mehr das Gemütsleben, das sie offen-
bart, macht sie uns lieb und wert. So drückt sie die Seeleneinheit
der Gatten dadurch aus, daß sie für Gattin die weibliche Form des
Wortes „selbst" (pati) verwendet und also der Mann sein Weib „mein
selbst" nennt. Dagegen braucht der Bräutigam der Braut gegenüber
niemals den Ausdruck „der Liebste" (metulis) oder „Bräutigam"
(jannekis), sondern er nennt sich nie anders als „Knechtlein" (bern-
glis), wie es denn früher Sitte war, daß ein Jüngling, der um ein
Mädchen warb, sich bei den Eltern desselben auf längere Zeit als
Knecht vermietete.
Eine folche Sprache ist ganz besonders für das Volkslied geeignet,
welches hier seit alter Zeit heimisch gewesen ist. Mädchen, Jungfrauen
untereinander oder auch Jünglinge und Mädchen singen bei ihren fest-
lichen Zusammenkünften Wechselgesänge aus dem Stegreife; wo eines
aufhört, knüpft das andere an, und fast immer sind die Bilder aus
der sie umgebenden Natur genommen. Möge ein Wechselgesang hier
Platz finden, freilich in einer Übersetzung, die dem Original an Wohl-
laut und Innigkeit nicht gleichkommt.
Sie.
S i e.
mich aus dem Hause, daß ich späh'
nach Wintermai und Sommerschnee.
Ich treff' sie nicht, wer sagt mir an,
wo ich die beiden finden kann?
Ich schweife ohne Frieden
in Flur und Wald umher,
mir armen Kummermilden
sind Herz und Füße schwer.
Stiefmutter trieb im Zorn
mit Worten spitz wie Dorn
O du bist unbescheiden!
Und doch — der Ring sei dein,
kannst du von meinen Leiden
daheim mich nur befrein.
Da, nimm mein goldnes Ringelein,
ich will von Herzen hold dir sein,
hilf nur, daß ich nach Hause geh'
mit Wintermai und Sommerschnee.
Du sollst sie beide haben,
du liebes, trautes Kind,
sei nur für diese Gaben
mir mild und hold gesinnt.
Gieb mir dein goldnes Ringelein,
versprich, daß du mir hold willst sein,
und alsbald ich dann mit dir geh'
nach Wintermai und Sommerschnee.
So komm, du trautes Leben,
komm mit zum Tannenhain.
Da werde ich dir geben
ein grünes Zweigelein,
das gieb der Mutter froh und frei,
denn Tannengrün ist Wintermai.
Dann laß uns weiter ziehen
zum wellenreichen Strand,
laß da die Wellen fliehen
durch deine ros'ge Hand
und nimm den weichen Gischt der See,
denn Meeresschaum ist Sommerschnee.