1890 -
Gotha
: Behrend
- Autor: Meyer, Johannes
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Litauen und seine Bewohner.
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In den Wechselgesängen zwischen Mutter und Sohn bittet der
Sohn die Mutter um ihren Segen, er will in den Krieg; die Mutter
schildert ihm die Schreckeu des Krieges; er fände da keine Schlafkammer,
kein Bett, keine weiche Decke. Der Sohn bittet: „Laß mich ziehen,
das Schlachtfeld wird meine Kammer sein, der Nachttau meine Lager-
stätte, der Nebel mein Deckbett." Da segnet sie ihn und schickt ihn
ins Feld zu den Brüdern, daß er vereint mit ihnen den Sieg heim-
bringe. Die Melodieen der Volkslieder sind weich, träumerisch, an-
ziehend; auch ihr Choralgesang hat eine lockende Eigentümlichkeit
Blasen doch selbst die Litauer Postilloue ganz anders als unsere, so
sehnsüchtig, in schmerzlicher Lust und wonnigem Leide, daß man mit
den Tönen vergehen möchte.
Eigentümlich wie der Gesang ist ihre Tracht; die Frauen tragen
wollene Kleider von eigenem Gewebe mit breiten, bunten Streifen; um
den Kopf ein farbiges Tuch, turbanartig gewunden; die Jungfrauen
haben ihr Haar in breiten Zöpfen geflochten, nach der Stirn zu wie
Ammoushörner gewunden; die Stirn ist mit einer Binde geschmückt.
Alles ist schmuck an ihnen, der Sonntagsstaat aber ganz besonders.
Da paradieren die Mädchen in blauer, mit Fischotterpelz verbrämter
Kasawaika, mit Goldtressen und Schnüren reich besetzt; ein breiter,
buntgewirkter Gürtel, von dem starke Quasten herabhängen, umschließt
die Taille; blendend weißes Tuch von feinem Linnen, worin selbst-
ersonnene sinnvolle Sprüche und Verse gestickt sind, hängt vornehm
über die Schulter.
Einfacher, aber ebenso eigentümlich und kleidsam ist die Tracht der
Männer. Selbstgewebte blauwollene Röcke, dicht zugehäkelt, decken ihren
Leib, eine Art dunklen Tuchhelms schützt ihren Kopf, den lange blonde
Haare zieren; ein ähnlicher Halsharnisch schließt sich an den Helm,
der mit offenem oder geschlossenen Visier getragen werden kann, je
nachdem die Witterung es gestattet oder gebietet. Ein breiter Lederriem
umgürtet ihre Taille, wahrend selbstgefertigtes, sandalenartiges Flecht-
werk von Lindenbast ihre Füße bekleidet. Ihre Lebensweise ist einfach,
ihr Brot ungewöhnlich grob, da sie das Getreide dazu in der
Regel nur schroten; sie bedienen sich dazu der Handmühlen, deren
jede Haushaltung eine eigene besitzt, ähnlich den großen Kaffeemühlen
unserer Spezereihändler. Kartoffeln sind ihre gewöhnliche Speise;
gesäuerter Brei, mit Milch Übergossen, Eisenbrei mit Speck, Butterteig
mit Saffran ihre Festspeisen. In den Fischgegenden kommt Fisch fast
täglich aus den Tisch, Brot oft nur an Sonntagen. Ihr Getränk in
der Ernte ist ein Haferbier, bei Hochzeiten Met, aus gegorenem Honig
bereitet, zuweilen feurig und edel wie alter Ungarwein.
Auffallend erscheint den Reisenden, daß die weibliche Bevölkerung
an Lebendigkeit und Regsamkeit die männliche übertrifft. Der Grund
liegt wohl darin, daß hier, ähnlich wie in Ostfriesland, die Mädchen
und Frauen weniger mit schwerer, Leib und Seele erschöpfender
Arbeit beladen und überladen sind als in andern Ländern. Sticken
und Weben ist ihre Hauptarbeit; beides beschäftigt, ohne zu erschöpfen;