1874 -
Halle
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Masius, Hermann
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
17. Wüsten und Steppen. 167
senstämmigen Lorbeer nie die verheerende Hand des Menschen, sondern nur
der üppige Andrang schlingender Gewächse droht. Agutis, kleine buntgefleckte
Hirsche, gepanzerte Armadille, welche rattenartig den Hasen in seiner unter-
irdischen Höhle aufschrecken, Heerden von trägen Chiguiren, schön gestreifte
Viverren, welche die Luft verpesten, der große ungemähnte Löwe, buntgefleckte
Jaguars (meist Tiger genannt), die den jungen selbsterlegten Stier auf einen
Hügel zu schleppen vermögen: — diese und viele andere Thiergestalten durch-
irren die baumlose Ebene.
Fast nur ihnen bewohnbar, hätte sie keine der nomadischen Völkerhorden,
die ohnedies (nach asiatisch-indischer Art) die vegetabilische Nahrung vorziehen,
fesseln können, stände nicht hier und da die Fächerpalme, Mauritia, zerstreut
umher. Weit berühmt sind die Vorzüge dieses wohlthätigeu Lebensbaumes.
Er allein ernährt am Ausflusse des Orinoco, nördlich von der Sierra de
Jmataea, die nnbezwungene Nation der Guaraunen. Als sie zahlreicher und
zusammengedrängt waren, erhoben sie nicht bloß ihre Hütten auf abgehauenen
Palmenpfosten, die ein horizontales Tafelwerk als Fußboden trugen; sie
spannten auch (so geht die Sage) Hangematten, aus den Blattstielen der
Mauritia gewebt, künstlich von Stamm zu Stamm, um in der Regenzeit,
wenn das Delta überschwemmt ist, nach Art der Affen auf den Bäumen zu
leben. Diese schwebenden Hütten wurden theilweise mit Letten bedeckt. Auf
der feuchten Unterlage schürten die Weiber zu häuslichem Bedürsniß Feuer
an. Wer bei Nacht auf dem Flusse vorüberfuhr, sah die Flammen reihen-
weise auflodern, hoch in der Luft, von dem Boden getrennt. Die Guaraunen
verdanken noch jetzt die Erhaltung ihrer physischen und vielleicht selbst ihrer
moralischen Unabhängigkeit dem lockeren, halbflüssigen Moorboden, über beu
sie leichtfüßig fortlaufen, und ihrem Aufenthalt auf den Bäumen: einer
hohe« Freistatt, zu der religiöse Begeisterung wohl nie einen amerikanischen
Styliten leiten wird.
Aber nicht bloß sichere Wohnung, auch mannigfaltige Speise gewährt
die Mauritia. Ehe auf der männlichen Palme die zarte Blütenscheide aus-
bricht, und nur in dieser Periode der Pflauzeu-Metamorphose, enthält das
Mark des Stammes ein sagoartiges Mehl, welches, wie das Mehl der Jatro-
pha-Wurzel, in dünnen brotähnlichen Scheiben gedörrt wird. Der gegohrne
Saft des Baunls ist der süße, berauschende Palmwein der Guaraunen. Die
engschuppigen Früchte, welche röthlichen Tannenzapfen gleichen, geben, wie Pifang
und fast alle Früchte der Tropenwelt, eine verschiedenartige Nahrung, je nach-
dem man sie nach völliger Entwicklung ihres Zuckerstoffes oder früher, im mehl-
reichen Zustande, genießt. So finden wir auf der untersten Stufe menschlicher
Geistesbildung (gleich dem Jnfeet, das auf einzelne Blütentheile beschränkt ist)
die Existenz eines ganzen Völkerstammes an fast einen einzigen Baum gefesselt.