1911 -
Stuttgart
: Holland & Josenhans
- Autor: Hörle, Emil
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Regionen (OPAC): Württemberg
- Geschlecht (WdK): koedukativ
e) Beschäftigung der Bewohner: Die Hauptnahrungsquellen
sind Ackerbau und Viehzucht, Obstbau und namentlich Industrie. Von den
Erzeugnissen der Landwirtschaft werden hauptsächlich Milch, Butter,
Schlachtvieh, Getreide, Kartoffeln, Gemüse, Eier, Obst und selbst Wein ver-
kauft. Diese finden in den Jndustrieorten des Albvorlandes guten Absatz,
werden aber teilweise auch bis uach Stuttgart verschickt. Vereinzelte kleinere
Industriegebiete sind um Spaichingen, Balingen und Aalen; aber ein
grotzer, ohne Unterbrechung zusammenhängender Industriebezirk
ist bete mittlere Stück des Albvorlandes, die Strecke von der
Steinlach bis hinunter zum Filstal.
Vor allem ist Reutlingen der Sitz einer bedeutenden Industrie. Zum
einfachen Handwerk der Gerber und Färber aus der Zeit der Schlacht bei
Reutlingen ist eine ganze Reihe neuer Zweige gewerblicher Tätigkeit hin-
zugekommen.
Von größter Bedeutung sind die hochentwickelte G e w e b e i nd u st r i e, dieschuh-
fabrikation, der Maschinenbau und die Metalltuchsabrikation.
Die Gewebe-' oder Textilindustrie beschäftigt allein 4000 Arbeiter. Zn ihr
gehören die Spinnerei, Weberei, Wirkerei und Strickerei. Wie die Metalltuchsabrikation
aus der alten Siebtnacherei, so ist die Reutlinger Gewebeindustrie aus der uralten, Hand-
werksmäßigen Zeug- und Tuchweberei hervorgegangen. Die Anwendung der Maschine
hat eine völlige Umwandlung hervorgerufen. Der Arbeiter, der im überhitzten Spinn-
saale bei tosendem Lärm seine Maschine bedient, verrichtet meist eine Arbeit, in die
man nichts von eigener Geschicklichkeit und Energie hineinlegen kann. Die Maschine
macht gesetzmäßig ihre bestimmte Zahl von Bewegungen pro Sekunde, und der Mensch
befriedigt nur ihre Bedürfnisse. Er gibt ihr Öl, er knüpft zerrissene Fäden, er ersetzt ab-
gelaufene Spulen oder verrichtet Arbeiten, die heute noch nicht von der Maschine über-
nommen werden können. Staunend und ohnmächtig steht der alte Leineweber dieser
Entwicklung gegenüber; der mechanische Webstuhl verrichtet etwa das Zweihundertfache
von der Arbeit eines Handwebers. In Reutlingen wird hauptsächlich Baumwolle ver-
arbeitet. Die Baumwollspinnerei von Ulrich Gminder zählt mehr als 40 000 Spindeln.
Mit der Baumwollweberei zusammen beschäftigt diese Firma allein über 2500 Arbeiter
und ist eine der größten des Landes. Bon großer Bedeutung ist auch die Reutlinger
Trikot- und Strickwarenindustrie. Sie hat in neuester Zeit infolge der zu-
nehmenden Sportlust einen bedeutenden Aufschwung genommen; denn Fußball- und
Tennisspiel, Rodeln und Schneeschuhlaufen erfordern eine besondere Kleidung. Neben
der Fabrikbeschäftigung hat dieser Industriezweig auch viel sogenannte Heimarbeit,
wie Stricken, Häkeln, Zusammensetzen, Nachbessern usw., gebracht. Damit sind freilich
auch mancherlei Unzuträglichkeiten, wie Überanstrengung von Kindern und zu langes
Sitzen der Erwachsenen bei teilweise sehr mangelhafter Entlohnung verbunden. In
Beziehung zur Gewebeiudustrie stehen sodann die Dampfwäscherei und Bleicherei,
in denen die Baumwollwaren gefärbt oder gebleicht werden. In Reutlingen besteht eine
dem ganzen Lande dienende Webschule, das Technikum sür Textilindustrie, das sich
zur Aufgabe macht, tüchtige Fabrikanten, Musterzeichner und Webmeister für Spinnerei,
Weberei, Wirkerei und Färberei heranzubilden.
Die S ch u h f a b r i k a t i o n hat durch die Maschine ebenfalls eine große Ver-
änderung erfahren. Ein Stiefel, der früher von einem einzelnen Mann vollständig
fertiggestellt wurde, geht heute durch 46 einzelne Maschinen, bis etwas Ganzes daraus
entsteht. Da wird mit einer Maschine die Sohle ausgestanzt, mit einer andern der
Absatz angefertigt usw. Der einzelne Mensch an der Maschine ist eigentlich gar kein
Schuhmacher mehr, braucht es wenigstens nicht zu sein, sondern er ist nur der Hand-
langer seiner Maschine.
Eine interessantere und auch lohnendere Arbeit ist der Maschinenbau. Dazu
braucht man. Eisendreher, Hobler, Schlosser, Schmiede, Former, Eisengießer usw.
Hergestellt werden vor allem Strickmaschinen, Webmaschinen, Papiermaschinen, land-
wirtschaftliche Maschinen, Werkzeugmaschinen u. a. Besonders interessant ist die Arbeit
des Eisengießers. Aus Formsand oder Lehm werden allerlei eigenartige Formen
hergestellt. Dann wird in Hochöfen das Metall flüssig gemacht. Zwischen zwei Lagen