1900 -
Leipzig
: Spamer
- Autor: Richter, Julius Wilhelm Otto
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
52 Fünftes Kapitel.
§ 4. Die niederdeutschen Stämme.
Die in unserm Vaterlande wohnenden Niederdeutschen zerfallen nur
in zwei Stämme: in die Sachsen und die Friesen, von denen diese seit alter
Zeit an den deutschen Nordseeküsten, jene von ihnen südwärts bis zur Grenze
der Oberdeutschen (vgl. oben) wohnen. Das ganze östliche Deutschland aber,
welches seit dem 6. Jahrhundert von den Slawen besetzt, später indes von den
Deutschen wieder zurückerobert und kolonisiert worden ist, trägt nicht eigentlich
den niederdeutschen Charakter an sich. Schlesien hat eine überwiegend ober-
deutsche Bevölkerung bekommen; bei ihrer Germanisierung sind Anhalt, die
Altmark, das Magdeburgische und Brandenburg vorherrschend, Lauenburg,
Mecklenburg, Pommern fast ausschließlich mit sächsischen Einwanderern be-
setzt worden, während in Ostpreußen dnrch den Deutschen Ritterorden und durch
spätere Ansiedelung mehr eine Mischung verschiedener deutscher Elemente ein-
getreten ist.
Hiernach gestalteten sich auch die mundartlichen Verhältnisse. Die eigent-
liche nieder- oder plattdeutsche Mundart wird, da das Friesische fast ganz aus-
gestorben ist, durch das „Sächsische" vertreten, welches sich wiederum in einen
niedersächsischen und einen westfälischen Dialekt scheidet. Dieser hat eine
Neigung, einzelne einfache Vokale des Niedersächsischen zu Doppelvokalen umzuge-
stalten und gewisse Konsonanten, die im Niedersächsischen nicht abweichen, eigen-
tümlich zu verändern.
Die hochdeutschen Doppelvokale au, eu, ei verwandeln sich im Niedersächsischen
zu so, ü, ie (für Traum — Droom, für Teufel — Düwel, für Leib — Liew),
fs und z werden zu t (für saß — sat, für Herz — Hart). Eigentümlich ist auch
dem Niedersächsischen das Fortwerfen von Konsonanten, besonders im Auslaut
(Gesich für Gesicht, rich für reichte, hal für holte :c.). Die hochdeutschen langen
Vokale 0, ü, e, werden im Niedersächsischen zu 0, ö, e, im Westfälischen dagegen
zu au, eu und ei; im Westfälischen wird das soll wie ein sk oder s-ch, das g wie
ein ch gesprochen. Die Fürwörter mich, dich lauten niedersächsisch mi, di, west-
fälisch mek, dek.
Der Stamm der Sachsen galt von alters her als besonders kraftvoll, hoch ge-
wachsen und vierschrötig. Neben einer gewissen Derbheit und einer Art trotzigen
Selbstgefühls ist den Sachsen treues Festhalten an heimischen Sitten und Bräuchen,
starkes Gottvertrauen, Sinn für Ordnung und Gesetzmäßigkeit und Liebe zu Unab-
hängigkeit und Selbständigkeit eigen.
Weniger durch ihre Sprache als durch ihren echt germanischen Typus (blaue
Augen, hellblondes Haar :c.), sowie durch ihr zähes und sprödes Festhalten am
Alten, ihre Freiheitsliebe und ihren seemännischen Geist erweisen sich die Bewohner
unsrer Nordseeküste als Nachkommen der alten Friesen.
§ 5. Allgemeine Charakteristik des dentslchen Volkes.
Die Unterschiede in den Mundarten der deutschen Stämme haben uns
zugleich Gelegenheit gegeben, aus die besonderen Charaktereigentümlichkeiten
der einzelnen Stämme einzugehen. Hier betrachten wir noch diejenigen Eigen-
schaften, durch welche sich das deutsche Volk als Gesamtheit von andern Natio-
nalitäten unterscheidet. Der Charakter des deutscheu Volkes weist eigentüm-
liche Gegensätze auf, die nicht nur in seiner früheren Geschichte, sondern auch
noch in der Gegenwart deutlich hervortreten. Selten findet sich ein Volk,
das mehr Sinn und Liebe besäße für Haus, Familie, Heimat und Vaterland,
und welches anderseits mehr Wandertrieb und Wanderlust, mehr Streben in