1896 -
Leipzig
: Hirt
- Autor: Leite, Rudolf
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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2. Österreich-Ungarn.
vor unseren Blicken. Im Y. und M. dehnt sich bis an die vordere der beiden
weissen Linien, die im H. das Bild abgrenzen, die alte Stadt Wien aus.
Das weisse Band stellt den sog. Donaukanal dar. Dieser bildet mit dem auf
unserem Bilde nicht sichtbaren Hauptstrom eine Insel, auf der — fern im
H. des Bildes — die schöne Leopoldstadt liegt;*) sie ist durch fünf
Brücken mit der Altstadt verbunden. L. im H. sind die verschwommenen
Umrisse der Ausläufer des Wiener Waldes und der Kahlenberg sichtbar.
Nachdem wir uns so einen Gesamteindruck von der grossartigen Welt-
stadt verschafft, wollen wir die eigentliche Stadt, das alte Wien, näher
ins Auge fassen. Im Y. zeigt unser Bild eine dem unteren Rande ent-
lang laufende breite Strasse. Das ist der berühmte „Ring", 3 km lang
und 22 m breit. Die Ringstrasse läuft dann um eine herrliche Anlage,
den vielbesuchten Yolksgarten, herum. Hinter demselben erhebt sich die
altehrwürdige kaiserliche Hofburg. Sie ist selber eine kleine Stadt und
besteht aus mehreren, meist vierstöckigen, einfachen Steinbauten. Im
Innern schliessen dieselben den geräumigen Burgplatz ein. Die im Y.
dargestellte Häusermasse lässt die Eigentümlichkeit vieler Häuser Wiens
erkennen. Sie bilden nämlich grosse Häuser-Yierecke mit Hofrämnen.
Solche abgeschlossene Häuserblocks stammen aus der Zeit, wo ein grosser
Teil von dem Grund und Boden Wiens in dem Besitz der geistlichen
Stifter und Klöster war. Diese meist fünfstöckigen Häuser bergen Hunderte
und Tausende von Mietern. Die Häuser am Ring sind lauter Paläste
mit den grossartigsten Kaufläden. Die Strassen und Gassen im alten
Wien sind eng und krumm, aber gut gepflastert. Die Häuser sind turm-
hoch, manche achtstöckig, „den Raum, den die Erde versagt, entwendet
man dem Himmel". In den Strassen wimmelt es fortwährend von Menschen,
Wagen und Karossen, die den Fussgänger nicht selten in Lebensgefahr
bringen. Hoch empor aus dem Häusermeer der Altstadt erhebt sich die
älteste und ehrwürdigste Kirche Wiens — der St. Stephans-Dom. Er ist
im M. r. sichtbar. Ernst und stolz ragt sein altersgrauer Riesenturm
gen Himmel. Neben ihm verschwinden die zahlreichen anderen Türme
und Kuppeln der Kaiserstadt. Er ist ein herrliches Denkmal altdeutscher
gotischer Baukunst. Die dicken, geschwärzten Wände, die riesenhaften,
bunten Fenster, die von ungeheueren Säulen getragenen, hohen Gewölbe
und das in ihm herrschende Halbdunkel erfüllen den Eintretenden mit
Ehrfurcht. Im unterirdischen Teile ist die Fürstengruft. Auf der Süd-
seite des Domes erhebt sich weithin sichtbar der hohe, schlanke Stephans-
turm, der „grosse Stephan" genannt. Er hat die Gestalt einer durch-
brochenen Pyramide. In der Spitze**) zeigt man noch heute den Sitz,
von dem aus Rüdiger von Starhemberg während der Belagerung Wiens
durch die Türken (1683) das feindliche Lager zu beobachten pflegte.
Yom Stephansturm aus erscheint die Stadt als ein Gewirre von Dächern,
Giebeln, Schornsteinen, Türmen, die Strassen und Gassen als hineingerissene
*) Sie ist eine von den 34 Vorstädten, welche wie ein grosser Halbkreis das
alte Wien umgeben.
**) Zu ihr führen 753 Stufen.