1883 -
Leipzig
: Spamer
- Autor: Kretschmer, Albert, Klöden, Gustav Adolf von, Steudener, Arnold, Köppen, Fedor von, Molendo, Ludwig, Nover, Jakob, Richter, Julius Wilhelm Otto
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Das alte Sachsenvolk und sein Glaube. 133
Menschenseelen hinter sich her zieht. Damit hängt auch wohl die Rattenfänger-
sage zusammen, wie wir im zweiten Kapitel dieses Abschnitts erörtert haben.
An Wodan, den Erntegott, erinnern noch die Gebräuche in Schaumburg-
Lippe, das ehedem zum Buckigau, also zu Engern gehörte, zu Ansang dieses
Jahrhunderts. Am Schlüsse der Roggenernte wurde dort den Arbeitern das
Wodansbier, sogenanntes Wodelbier, gereicht. Auf ein gegebenes Zeichen hielten
plötzlich alle Arbeiter inne, stellten die Sensen senkrecht vor sich hin, schlugen
mit dem Wetzstein, gössen etwas Milch oder Bier auf den Acker und tranken
darauf. Dann setzten sie den nicht ganz geleerten Krug auf die Erde, schwenkten
die Hüte und riefen, um eine letzte stehengebliebene Garbe herumtanzend:
„Wold, Wold, Wold!
Der Himmelsriese weiß, was geschieht,
Stets er vom Himmel herniedersieht.
Er hat volle Krüge und Büchsen.
Auf dem Holze wächst mancherlei
Er war nicht Kind und wird nicht alt.
Wold, Wold, Wold!"
Danach klopften die Weiber die Brotkrumen aus ihren Körben anf den
Acker aus und die Männer gössen die Neige ihres Getränkes zur Erde. Die
letzte stehengebliebene Garbe nannte man Waulroggeu, d. h. Wolds- oder Wodans-
roggen. An den Vegetationsgott Wodan erinnern noch viele Gebräuche mit dem
„Schimmelreiter" und „Maikönig", an den im Winter im unterirdischen Schlosse
schlafenden Gott die Sagen von verzauberten Kaisern und Helden. Geheiligt
und geopfert wurde ihm als dem „Schimmelreiter" das Roß; als Cäeina
(15 n. Chr.) sich dem Schauplatze der Varianischen Niederlage nahte, fand er
viele Pferdeköpfe an Bäumen aufgepflanzt. Aber auch Menschenopfer bluteten
ihm, wie denn die Tribunen und Ceuturioueu des Varus an Altären geschlachtet
wurden. Daß man namentlich im Teutoburger Walde, dem Osuing, das ger-
manische Asgard, d. h. die Göttersitze uusrer Vorfahren, nachzuweisen versucht
hat, ist bereis im dritten Kapitel dieses Abschnitts erörtert worden. Vielfach
haben sich altheidnische Gebräuche in christlichem Gewände zur Zeit uusrer Feste
erhalten; so steckt in dem Knecht Ruprecht des kiuderfreuudlicheu Bischofs Nikolaus
Ruodperacht, der Ruhmumgläuzte, d. i. Wodan, der Wunscherfüller und Gaben-
fpender. An Stelle früherer Wodansheiligtümer traten Kapellen des Erzengels
Michael, und ebenso vertrat der heilige Martin, dem zu Ehren man in vielen
Gegenden eine Gans verspeist, den Erntegott Wodan.
Nicht minder hat Westfalen die Erinnerung an Wodans gewaltigen Sohn,
den Donnergott Donar, bewahrt. Sind doch in einem der ältesten literarischen
Denkmale über den Glauben unsrer Vorfahren, in einer niedersächsischen Ab-
schwörnngsformel aus dem 8. Jahrhundert, die drei Namen der Hauptgott-
heiteu der alten Sachsen genau verzeichnet, nämlich Wodan, Donar und Saxnot
(— Zio, Cheru, der Kriegsgott). Donars Name und sein Hammer klingen noch
in gemeinen Flüchen nach; ja, im niederdeutschen Gebiete flucht man geradezu:
„Dat di de hamer!" An vielen ihm geweihten Stätten stand die ihm geheiligte
Eiche, wie bei Warburg an der Diemel, neben einem Donnersberg. An Donar,
den Beschützer vor Seuchen, gemahnen die noch auf dem Lande üblichen Not-
feuer, durch die das Vieh getriebeu ward. Unzählige Gebräuche haben sich
im Volksaberglauben, besonders auf dem Lande erhalten, welche an den