1884 -
Leipzig
: Spamer
- Autor: Burmann, Karl, Klöden, Gustav Adolf von, Köppen, Fedor von
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Rübezahlsagen. 157
Nübezahllagcn. Rübezahl erlöst einen Schuhmachergesellen vom
Galgen. In einem Städtchen am Riesengebirge hielt ein Schuhmachergeselle sich
bei einem Meister auf, dem er an den Arbeitstagen tüchtig beim Handwerk half.
Sonntags jedoch hielt den lustigen Gesellen nichts im Zimmer, dann streifte er gern
in Feld und Wald umher. Zu seinen Lieblingsgewohnheiten gehörte es, nach
dem Gebirge zu gehen und dort in seinem Übermut den Berggeist zu verhöhnen
und zu beschimpfen. Nichts aber konnte Rübezahl mehr erzürnen, als Spott-
lieder, die auf ihn gesungen, und Spottreden, die auf ihn gehalten wurden;
deshalb bestrafte er den kecken Gesellen stets mit einem plötzlichen Unwetter,
das demselben jedoch keinen großen Schaden brachte, da er niemals auf das
Gebirge selbst ging. Rübezahl strengte nun seinen Kopf an, um auf Rache für
den Übelthäter zu sinnen. Der Abschied desselben vom Meister sollte ihm Ge-
legenheit dazu geben. Ehe er fortwanderte, packte der Geselle alles, was ihm
gehörte, in sein Felleisen; Rübezahl aber nahm heimlich aus des Meisters
Schrank einen silbernen Becher, silbernen Löffel, viele schöne Schaupsenuige
und legte alles in das bereits verschlossene Felleisen, mit welchem der Geselle
bald darauf gutes Mutes fortzog. Nicht lange währte es,, so öffnete der Schuh-
macher seinen Kleinodienschrank, um zu den dort vorhandenen einen neuen Schau-
Pfennig hinzuzulegen. Wie groß war aber sein Schrecken, als er viele von seinen
Kleinodien vermißte; ohne Bedenken fragt er alle seine Hausgenossen aus, hält
strenge Untersuchung, findet jedoch alle unschuldig. Nun erst fällt ihm der Ge-
felle ein, der ihn erst vor kurzer Zeit verlassen hat; schnell macht er sich auf
den Weg, holt ihn bald ein und setzt ihn zur Rede, ob er vielleicht dieses oder
jenes von den verschwundenen Kleinodien gesehen habe. Mit gutem Gewissen
antwortet der Geselle, daß ihm nichts darüber bekannt sei und daß er ihm ehr-
lich und treu gedient habe; er möge sich selbst überzeugen, daß in dem Felleisen
nur sein Eigentum vorhanden sei. Ohne Umschweife öffnet er sein Ränzel,
nimmt seine Sachen heraus und hält plötzlich die vermißten Wertsachen des
Meisters in der Hand, der höchlich erfreut über den Fang ist. Vergebens be-
tenert der Geselle, der ganz starr vor Schrecken ist, seine Unschuld, sagt, daß
vielleicht ein andrer ihm aus Rache die Kleinodien hineingelegt habe; der Meister
glaubt ihm nicht, schleppt ihn zum Gericht, wo ihm der Prozeß gemacht und er
zum Tode verurteilt wird. Alle seine Beteuerungen, daß er unschuldig sei, helfen
ihm nichts; der Tag, an dem er gerichtet werden soll, wird festgesetzt. Bevor er
jedoch seinen letzten Gang antritt, erscheint Rübezahl bei ihm und fragt ihn,
was er hier mache, worauf er mit betrübter Miene erwidert, daß er heute noch
gehenkt werden soll eines Diebstahls wegen, den er nicht begangen. „Siehe",
sprach nun Rübezahl, indem er sich zu erkennen gab, „diese Schande habe ich dir
bereitet, weil du es nie unterlassen konntest, mich zu verhöhnen. Jetzt aber hast du
genug erduldet, und ich gebe dich wieder frei." Darauf löste er ihm die Ketten,
in die er sich selbst schloß, machte ihn unsichtbar und ließ ihn aus dem Gefängnis
entwischen. Nicht lange währte es, so erschien ein Pastor, um den Sünder beichten
zu lassen und ihm das Abendmahl zu geben. Auf alle Ermahnungen desselben
hatte Rübezahl jedoch nur Spott bei der Hand, den er auch beibehielt, als er zum
Thore hinaus nach dem Galgen geführt wurde, an den man ihn henkte. Wie groß
war jedoch das Entsetzen der Anwesenden, als sie, nachdem die Henkersknechte
von der Leiter heruntergestiegen waren, am Galgen nur ein Bund Stroh sahen!