1884 -
Leipzig
: Spamer
- Autor: Burmann, Karl, Klöden, Gustav Adolf von, Köppen, Fedor von
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
440 Im Regierungsbezirk Bromberg.
der Menschen erhob sich von den Hügeln ein ungemein großer Schwärm von
weißen Riesenadlern, und der ganze Hain war mit Adlernestern angefüllt.
Lech wurde von einem dieser Adler, der sich in seinem Nacken verfing, über-
fallen, und erst nach tapferer Gegenwehr gelang es ihm, den Aar zu bewältigen.
Auf dem Hügel, auf dem sich das Nest (gniazdo) des Tieres befand, legte er
eine Burg an; dort baute er, ein königlicher Aar, sich sein Nest, von dem aus
er mit seiuem Geschlechte die Lande weit umher beherrschen wollte. Er faud
die Gegend vorzüglich geeignet zur Gründung einer festen Stadt, ließ den Hain
niederhauen, erbaute neben der Burg zum Dauke den Göttern, die ihn so günstig
geführt hatten, einen Tempel und ließ ringsherum eine Stadt erbauen, welche
er G-niezna, d. h. Nest, nannte. So wurde die Stadt Gnesen gegründet.
Zum Andenken an jene Adler und in Verehrung des göttlichen Winkes
erkor Lech den Adler zum Sinnbilde und Zeichen seiner Herrschaft. Deshalb
ist der weiße Adler mit ausgebreiteten Fittichen auch in das Wappen des pol-
nischen Reiches aufgenommen worden.
Lech bemühte sich, sein Volk zu Ackerbauern zu machen; er selbst bebaute
bei seiner Residenz die jungfräuliche Erde, die noch kein Pflug berührt hatte.
Sie lohnte die Arbeit mit reichem Ertrage, und bald entstanden Meiereien,
größere und kleinere Dörfer in der Nähe Gnefens, und immer zahlreicher
drängten sich die Einwohner nach dem Sitze ihres Herzogs, der dem Volke
weise Gesetze gab und Recht und Ordnung im Lande mit Kraft. Klugheit und
Mäßigung handhabte.
Lechs Tod verbreitete tiefe Trauer über das ganze Land. Die angesehensten
Männer aus allen Gegenden des Reiches kamen in Gnesen zusammen, um über
das Wohl des Staates zu beraten. Da zeigte sich wieder der alte Unabhängig-
keits- und Freiheitssinn der Lechiten; sie wollten sich keinem Manne unterwerfen
und doch ein zusammengehöriges Volk bleiben. Deshalb wählten sie keinen
König, sondern zwölf Männer, die sich durch Reichtum, Ansehen und ehren-
werten Charakter auszeichneten, denen sie die Sorge für das Reich auftrugen.
Aber jetzt wollte jeder herrschen, keiner gehorchen; der starke Mann unterdrückte
den schwachen, bis sich ein stärkerer wieder des starken bemächtigte; Eigennutz
trat an die Stelle des Gemeinsinnes, Privatleidenschaft an die Stelle der Ge-
rechtigkeit. Während Unfriede im Reiche herrschte und jeder unbewußt am
Untergange seines Vaterlandes arbeitete, stürmten die Nachbarn als Feinde in
das Land ein, eroberten große Striche desselben und schleppten die Einwohner
als Sklaven hinweg. Der Ruhm und die Macht der Lechiten war eingehüllt
in tiefe Schmach und arges Zerwürfnis. Fast 150 Jahre gingen so in großem
Elend hin. '
Die ersten Herrscher. Da erinnerten sich die wackeren Männer, die von
quälendem Schmerz über die Leiden des Vaterlandes erfüllt waren, an ihren
Stammvater Lech und an seine Weisheit; sie beriefen das Volk zu eiuer großen
Versammlung an die Quellen der Weichsel. Unter der Volksmenge trat ein
Mann auf, Crae mit Namen, der durch Rechtlichkeit, Weisheit und Erfahrenheit
im Kriegswesen bekannt war, und zog durch seine Reden die Aufmerksamkeit
der Anwesenden auf sich. „Lächerlich ist", so sprach Crae, „ein verstümmeltes
Tier und ein kopfloser Mensch. Was ist ein Körper ohne Seele, was eine