1882 -
Leipzig
: Spamer
- Autor: Friedel, Ernst, Lüders, Hermann, Klöden, Gustav Adolf von, Köppen, Fedor von, Schwebel, Oskar
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
274 Die märkischen Elbgcgendcn.
Blutstropfen benetzt. Der Eindruck des Wunders war bei deu Zeitgenossen ein
überwältigender. Die Untersuchungen des Bischofs von Havelberg bestätigten
die Authentizität des Mirakels. Ein altes Mütterchen, welches die Hostien ge-
sehen hatte, warf die Krücken fort und ward gesund. So war Wilsnack über
Nacht zu einer Gnadenstätte geworden. In rascher Folge entwickelte sich nun
das Dorf zur Stadt, und die reichen Gaben der Pilger, welche hier Vergebung
ihrer Sünden suchten, ermöglichten dem Bischöfe Johann Wöpelitz, einem der
kunstsinnigsten Männer jener Tage, den Bau der herrlichen Kirche.
Es waren gesegnete und buntbewegte Zeiten für Wilsnack, die Jahre bis
zur Reformation! Jedes Haus war eine Herberge und hatte fein besonderes
Zeichen. Ein ewiger Jahrmarkt schien den Wilsnackern gekommen zu sein.
Die Böhmen, die Polen, die Ungarn kamen mit fahrenden Weibern und Gauklern;
die Magyaren stifteten ein Wachslicht, so hoch, das; es von der Orgel aus an-
gezündet werden mußte; herrliche Glocken sendeten ihre tiefen, wohllautenden
Stimmen aus der Kirche weit über das Land hinaus. Im Gotteshause selbst
befanden sich drei Orgeln und eine Menge von Votivgefchenken, welche mit der
Geschichte des heiligen Blutes in näherem Zusammenhange standen, z. B. ein
Schwert, in welches sich der Stab eines Pilgrims verwandelt hatte, welcher
auf dem Wege nach Wilsnack von Räubern angegriffen worden war, Hände von
Silber und Aehnliches mehr. Eine Sünderwage, deren Handhabung einem
Priester oblag, bestimmte die Schwere der Schuld des Einzelnen und die Buße,
welche er in Naturalien oder Geld zu entrichten hatte, ehe ihm die Sünden-
Vergebung gewährt und der Anblick des heiligen Blutes verstattet ward.
Eine besonders ergiebige Einnahmequelle für das Havelberger Bisthum
war der Verkauf gewisser bleierner Zeichen, einer Art von Schau- und Gedenk-
münzen, welche mit drei purpurnen Blutstropfen gezeichnet waren. Auf deu
Hut oder das Barett gesteckt, eröffneten sie den Pilgern von Wilsnack überall
gastfreie Aufnahme und machten deren Wirthe der Verdienste der Pilgerfahrt
theilhaftig. Aber auch das Wilsnacker Wunderblnt theilte das gemeinsame
Schicksal aller Dinge auf Erden; sein Ansehen sank.
Die ersten Angriffe gegen die abgöttische Verehrung der wunderwirkenden
Hostien geschahen durch keinen "Geringeren als durch Johann Hus. Ihm folgte
in der Bekämpfung der Hostiengeschichte der Magdeburger Domherr Heinrich
Tacke und endlich Luther selbst. Mit zäher Thatkraft wollte besonders der
Domdechant Peter Konradi die Wilsnacker Hostien vor den Angriffen der evan-
gelifchen Prädikanten fchühen, bis am 28. Mai 1552 der evangelische Pfarrer
Ellefeld zu Wilsnack der Existenz des heiligen Blutes selbst ein Ende machte.
Er zerschlug die Gefäße und verbrannte die Hostien mit den Worten: „Ver-
fluchter Teufel; heute zerstöre ich dich in Gottes Namen, weil du Viele irregeführt
hast." Freilich hatte der muthige Mann seine That mit Gesängniß aus der
Plattenburg, dem bedeutendsten bischöflichen Schlöffe der Priegnitz, zu büßen.
Einst war der Name der Stadt Wilsnack durch ganz Europa hin bekannt.
Jetzt herrscht die elegische Stille eines Landstädtchens in dem Orte, aus dessen
Kirchhofe sich einst das bunte Jahrmarktsgetümmel deutschen Wanderlebens in
der warmen Augustsonne entfaltete, denn der St. Bartholomäustag bildete den
Höhepunkt der Verehrung des heiligen Blutes. Nur das grandiose Gotteshaus
gemahnt an die alte, farbenprächtige Zeit.