1. Bd. 2
- S. 20
1875 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Iii. Länder- und Völkerkunde. A. Europa.
als den zwischen dem militärischen Ruhme, welcher das goldene Kalb der
Franzosen ist, und den industriellen und commerciellen Unternehmungen,
durch welche die Engländer ihre Lorbern erringen? Wie verschieden ist die
Denkweise beider Nationen in der Politik, wie verschieden ihr Verfahren in
der Behandlungsweise aller politischen Wissenschaften? Die Franzosen wollen
immer Neues bauen, die Engländer immer das Alte conserviren. Die Fran-
zosen sind Demokraten, die Engländer Aristokraten. Bei den Franzosen
ist Alles Theorie, bei den Engländern Alles Erfahrung. Jene verfallen
daher leicht in den Fehler, die Facta zu mißdeuten, die Erfahrungen unbe-
rücksichtigt zu lassen, erst Theorieen zu ersinnen und danach die Erscheinungen
zu erklären, diese in den entgegengesetzten, der Erfahrung zu viel Gewicht
beizulegen und der Theorie, der Blüte aller Erfahrung, verlustig zu gehen.
Wie verschieden ist die Einkleidung der Gedanken bei beiden Nationen, ihre
Sprechweise und ihr Stil! Die Franzosen suchen Alles in sprudelndem Geist,
in künstlichen Antithesen, in feinem Witz, ja, die Geistesgegenwart eines
schlagfertigen Witzes wird von den Franzosen mehr als von anderen Natio-
nen geschätzt, während die Engländer Alles in einfache, natürliche Sprache,
klare Darstellung, derbe und handgreifliche Vergleiche setzen. Welcher Eon-
traft zwischen dem „esprit", der Verstandesschärfe des Urtheils mit dem ein-
schmeichelnden Schmuck der Phantasie verbindet und der in den französischen
Schriften sprudelt, und dem „humour" und „common sense", der in den
englischen Büchern fließt!
Die Franzosen sind poetisch in ihrem Wesen, aber ohne Poesie in der
Tiefe ihrer Seele, — die Engländer scheinen auf den ersten Anblick die per-
sonificirte Prosa zu sein, aber im Innern sind sie von tiefer Poesie durch-
drungen, — die Franzosen sind sentimental, die Engländer haben tiefes Gefühl,
— die Franzosen geben bald alles, was sie in sich haben, von sich, die Eng-
länder geben von vornherein nichts, — die Franzosen lieben zuvorkommendes
Wesen, die Engländer hassen es, — die Engländer scheinen den Franzosen
schwer wie Blei, die Franzosen den Engländern leicht wie Federn, — das
ganze Auftreten des Franzofen ist dem Engländer in London unwiderstehlich
komisch, die ganze Erscheinung des Engländers reizt den Franzosen in Paris
zum Lachen.
Die Franzosen finden in allen anderen Nationen etwas, das ihnen
zusagt: bei den Deutschen die Bonhommie, bei den Spaniern das Feuer,
bei den Slaven das gewandte Wesen, bei den Italienern vielerlei Dinge.
Aber von welchen Eigenschaften des Engländers findet sich der Franzose an-
genehm erregt? Bei jeder andern Nation finden die Engländer doch wenig-
stens etwas, das ihnen wohlgefällt und das sie ihrem eigenen Wesen ge-
wissermaßen verwandt fühlen: bei den Holländern das Phlegma, bei den
Spaniern die Gravität, bei den Deutscheu den gesunden Menschenverstand,
bei den Ungarn den aristokratischen Sinn. Aber welche Affinität mit den