1. Bd. 2
- S. 255
1875 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): Jungen
290. Siam und die Siamesen.
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ihre Feigheit ist mit Grausamkeit gegen den Feind gepaart. Im Kriege
machen sie Alles nieder oder führen die Gefangenen in Sclaverei. Unter
den Siamesen selbst gibt es keine inneren Fehden, keine Selbstrache: jede
Beleidigung zeigen sie bei der Obrigkeit an. Dieser Mangel blutiger Räch-
gier ist nur Folge ihrer Charakterschwäche. Alle ihre Tugenden sind nega-
tiver Art, wie die Mäßigung, Friedfertigkeit, Enthaltsamkeit, Gehorsam u. a. m.
Die Hauptlehre des Buddhaismus, die der Seelenwanderung, mußte den
größten Einfluß auf das Leben gewinnen, daher auch der ausgebildete Todten-
Cultus der Siamesen und ihr Glaube an eine Art von Unsterblichkeit, an
eine Vergeltung nach dem Tode. Die Guten kommen nach einer Anzahl
von Transmigrationen in einen der 22 Himmel, wo sie Gautama und die
Heiligen finden; die Bösen aber kommen an einen der 8 Höllenorte. Sie
kennen kein höchstes, ewiges Wesen, keinen Schöpfer und Erhalter der Welt.
Der Religions-Cultus ist ihnen nur Unterhaltung; den einzigen Ernst zeigen
sie den Todten. Deren Behandlung ist nach dem Range sehr verschieden.
Die Leichen der Aermsten werden ohne alles Eeremoniel in das Wasser ge-
worsen, die Wohlhabenderen werden verbrannt, den Rest ihrer Gebeine bleicht
man in den Feldern oder gibt sie den Raubthieren preis. Jede männliche
Person muß einmal, wenn auch nur temporär, in den Priesterstand treten
selbst der König muß auf 2 oder 3 Tage Talapoine sein, die er dann zum
Almosensammeln verwendet. Die Minister müssen es einige Monate ftin,
und es wird als eine Art spiritueller Firmung angesehen. Der Mann kann
in den Priesterstand ein- und wieder austreten, wie und wann er will. Zur
Einweihung gehören die Tonsur, die Absolution; die Talapoine leben zu 10
bis zu mehreren Hunderten beisammen in Klöstern, die einem der zahlreichen
Tempel angehören. Sie sind nach 6 Rangordnungen getheilt und haben
ihre vollständige Disciplin. Sie müssen ehelos leben, alle weltlichen Ge-
schäste ganz unterlassen, so daß sie zum Nichtsthun verurtheilt sind, sich des
Tödtens alles Lebendigen enthalten, sich der Meditation ergeben, Almosen
einsammeln, Gebete, Hymnen, Predigten in den Capellen halten u. s. w.
Ihnen muß Alles gehorchen; sie zahlen keine Abgabe; bei Weitem die meisten
Talapoine kehren, nach einigen Monaten oder Jahren ihres Lebens im Orden,
in das Weltleben und zur Ehe zurück.
Der Haupttempel zu Bangkok, in dessen Centralgebäude ein Buddha-
Koloß steht, füllt sich an Festtagen mit Volk aller Art, aus Siam, Cochin-
china, Kambodja u. s. w., die, in fröhlicher Converfation begriffen, ihre
Weihrauchkerzen anzünden, dabei selbst ihre Cigarre rauchen, ihre Opfer bringen,
seidene und andere Stoffe, Schleier den Idolen anhängen, ihr Goldpapier ver-
brennen, ein Liedchen auf einer Pfeife blasen u. a. m., und dann wieder
abziehen.
Die sanfte Buddha-Religion, deren Verbot des Blutvergießens im rohen
mongolischen Norden allein schon Versittlichung herbeiführen konnte, hat hier