1. Bd. 2
- S. 344
1875 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Iii. Länder und Völkerkunde. B. Asien.
jener Begebenheit die erhabensten Bilder und Gleichnisse zu entnehmen pflegten.
Nur der Prophet Elias machte hiervon eine Ausnahme, als er vor den Nach-
stellungen der abgöttischen Iezabel durch die Wüste nach dem Berge Horeb,
„dem Niedern Stockwerk des Sinai", floh, wo er nach Sturm, Erdbeben und
Feuer im stillen, sanften Säuseln „die Stimme des Herrn vernahm". (B.
d. Könige, I, 19.)
An der nordöstlichen Seite des Horeb in einer Bergschlucht steigt man
auf jenen, zum Theil verfallenen Stufen empor, welche schon die fromme
Kaiserin Helena oder doch Kaiser Justinian zur Bequemlichkeit der Pilgrime
anlegen und einhauen ließen. Endlich gelangt man zu einer Gebirgsplatte,
auf welcher, im Schatten von Cypressen, ein gemauerter Brunnen steht, und
hier ist man auf der Höhe des im engern Sinne *) sogenannten Horeb, von
welchem der Sinai eigentlich nur der südöstliche, höher ansteigende Gipfel ist.
Der Gipfel ragt mehr denn 2000 M. über das Meer und beherrscht eine Aussicht
über das niedere Land und die Wasserfläche, welche, wo sie durch vorliegende
Berge nicht gehemmt wird, nach allen Richtungen hin gegen 23 Meilen beträgt,
mithin einen Kreis, welcher im Durchmesser 46, im Umfange 144 Meilen
mißt. Wo aber jenfeit dieses Kreises ein Berg von gleicher Höhe steht, da
erweitert sich die Aussicht auf das Doppelte und in gleichem Verhältniß der
Gesichtskreis. Nirgends, wohin man auch sieht, eine grünende Alpenwiese;
nirgends ein Wald, kein rauschender Bach noch Wasserfall, keine Alpenhütte
noch Dorffchaft. Die Wüste des Sinai mit ihrer Felsenwarte ist eine Ver-
sinnlichung jener Zeit der Anfänge, da noch kein Gras und Kraut noch
fruchtbare Bäume, kein lebendes Thier noch Menschen waren, sondern da
statt der Kraft des freien Lebens nur jenes Gesetz waltete, das der Erdveste
ihre Gestaltung, dem Gewässer seine bestimmten Grenzen gab.
Und auf diese Felsenwarte läßt nun auch die Geschichte der vergangenen
Tage ihren verklärenden Strahl fallen. Hier ward den Menschen das Gesetz
gegeben, das auf Christus hinweist, weil in Ihm des Gesetzes Erfüllung ist.
Wie dann hier, unter dem Fittiche des einsamen Adlers, der sein Volk
hieher in die Stille der Felsenwüste führte, der Lebenskeim der beiden
Religionen, der des Gesetzes und jener der Erfüllung, ausgeboren ward; so
nahm dort im Südosten der Islam seinen Ausgang: wir stehen hier im
Geburtslande der drei monotheistischen Religionen.
*) Im weiteren Sinne wirb unter dem Namen Horeb in der heiligen Schrift
offenbar die ganze Gebirgswüste der Umgegend des Sinai verstanden.