1. Bd. 2
- S. 404
1875 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Iii. Länder- und Völkerkunde. C. Afrika.
alte, heilige Strom Aegyptens. Denn um ihn hat Sage und Dichtung, hat
die Sonne des Morgenlandes einen Zauber gewoben, der durch alle Zeiten
unzerstörbar fortwirkt. Die Urgeschichte der Menschheit beginnt an seinen
Ufern. Dort, auf den Stufen der Pyramiden, sitzt die Muse, Hieroglyphen^
geschmückt, und erzählt von Memphis und von Theben, von Abraham und
Joseph und von dem Knaben, den Pharao's Tochter im Schilf des Nils
gesunden. Zu ihr pilgerten, Weisheit suchend, Pythagoras und Solon,
Herodot und Plato i hierhin flüchtete Maria mit dem Jesuskinde; hier begeg-
neten sich waffenklirrend die Völker aus Abend- und Morgenland, und neben
Alexander stellt sich Cäsar und Napoleon. Wo gäbe es einen mehr weit-
historischen, mehr poetischen Strom, gleich diesem, von den ehrwürdigsten
und gewaltigsten Erinnerungen umklungen?
Aber auch wenn man die eigenartige Natur und Bedeutung oes Nils
betrachtet, seinen geheimnißvollen Ursprung und seine 7 Mündungen, die
Linie seines Laufs oder seine periodischen Überschwemmungen, seine todt-
starren Ufer oder die belebende Kraft seines Wassers, so erscheint er imver-
eine aller dieser Beziehungen fast einzig und unvergleichbar.
Lange hat dernil die Stätte seiner Geburt in ein undurchdringliches Dunkel
gehüllt, so daß sprüchwörtlich Nili caput quaerere so viel bedeutete, als
etwas Unmögliches versuchen. Doch die Wissenschaft sträubt sich gegen jedes
Geheimniß und kennt weder Schranken noch Gefahr. So haben denn auch
die Portugiesen schon 1624 die Ueberlieferung griechischer Geographen, daß
der Nil aus zwei Strömen zusammenfließe, zur Gewißheit erhoben. Der
östliche dieser Ströme, welcher den abessinischen Hochgebirgen entspringt, den
Tsana-See durchströmt und dem regenlosen Aegypten in felsigem Bette alle
Flüsse und Ströme Abessiniens als ein ungetrübtes Wasser zuführt, ist jetzt
als der blaue Fluß (Bahr el azrek) bekannt, während der andere, west-
liche, von seinem thonhaltigen,^grauweißen Wasser den Namen des weißen
Flusses (Bahr el abiacl) erhalten hat. Diesen letztern hat man mit Recht
als den eigentlichen Hauptfluß, den erstem als dessen Nebenfluß angesehen.
Denn der weiße Nil führt eine dreifach größere Wassermenge und fließt all-
zeit in gleich mächtiger Strömung, während der blaue Nil zwei Vierteljahre
hindurch das Bild eines trägen, seichten Steppenflusses gibt.
In unseren Tagen hat man (vor Allen die Engländer Speke und
Baker) erkannt, daß sich im Innern Afrika's, ähnlich wie im Innern Nord-
amerika's, ein Gebiet großartiger Seen erstreckt, welche, unter einander zu-
sammenhangend, ein einziges afrikanisches Binnenmeer bilden. Aus ihren
Becken hervor und durch ihre Becken hindurch strömt nun der Nil, gleichsam
die mächtige Aterie dieses Wassersystems. Als eigentlicher Quellsee aber gilt
der mächtige Ukerewe (Victoria Nyanza) — eher das Haupt als der Er-
zeuger des Nils. Auf einer (1300 Meter hohen) Terrasse, unmittelbar unter
dem Aequator gelegen, sammelt er die unermeßlichen Gewässer der Tropen-