1. Bd. 2
- S. 435
1875 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): Jungen
355. Die Bewohner der Berberei.
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erreichen sie ein hohes Alter. Die Jagd, etwas Ackerbau und Viehzucht
sind ihre einzige Beschäftigung; treu und gastfrei für Freunde, sind sie wild
und grausam gegen Feinde, Fremden abgeneigt und eifersüchtig auf ihre
rohe Unabhängigkeit.
Zu den Berbern gehören auch die Kabylen. Bei keinem Volke
erscheint wohl der Stolz auf eine uralte, ununterbrochene Unabhängigkeit
gerechtfertigter, als bei ihnen. Die römische Weltherrschaft und der Andrang
der Vandalen im 5. Jahrhundert vermochten nicht, ihnen ihre Freiheit zu
rauben; die gegen Ende des 7. Jahrhunderts hereinbrechende Flut der
Araber, welche weder die Meerenge von Gibraltar noch die Pyrenäen auf-
zuhalten vermochten, brach sich an der Tapferkeit dieses Volkes und an der
Unzugänglichkeit seiner Wohnsitze, und keine Armee der späteren türkischen
Machthaber war im Stande, diese Söhne des Gebirges vollständig ihrer
Botmäßigkeit zu unterwerfen. Dieser Nationalstolz macht sich denn auch in
dem ganzen Wesen des Kabylen bemerkbar; das ihm eigene würdevolle
Benehmen verläßt ihn auch bei den geringfügigsten Handlungen seines
Lebens nicht und zeichnet ihn vor allen benachbarten Völkerschaften aus das
vorteilhafteste aus. Reizbar von Gemüth, versetzt ihn alles in Zorn, was
irgendwie seinen Stolz verletzt. Von offenem Charakter, verschmäht es der
Kabyle, zu Lügen und Winkelzügen seine Zuflucht zu nehmen. Diese
Offenheit beobachtet er auch bei seinen Kriegen; denn während der Araber
seinen Feind, ohne ihm den Krieg zu erklären, plötzlich überfällt, schickt der
Kabyle immer eine Kriegserklärung voraus, welches auf folgende Art
geschieht. Das Unterpfand des Friedens zwischen zwei Stämmen besteht in
irgend einem beliebigen Gegenstande, den sie gegen einander austauschen,
welcher dann el Mezrag, die Lanze, genannt wird, wahrscheinlich weil
früher Lanzen ausgetauscht wurden. Will nun ein Stamm dem andern
Krieg erklären, so schickt er den Mezrag zurück, und der Stamm weiß dann,
woran er ist. Die Dia oder das Blutgeld als Sühne für den Mord eines
Verwandten oder Stammgenossen anzunehmen, gilt bei den Kabylen für
schimpflich, und nur das Blut des Mörders oder das eines feiner Anverwandten
kann das vergossene Blut sühnen. In dieser Beziehung herrscht zwischen
den Sitten der Kabylen und denen der Araber Süd-Arabiens eine merk-
würdige Übereinstimmung. Wie bei allen orientalischen Völkerschaften, wird
auch bei den Kabylen die Gastfreiheit als eine Haupttugend angesehen:
jeder, welcher Religion, welcher Nation er auch angehören möge, kann sicher
sein, auf das gastsreieste aufgenommen und behandelt zu werden, und nichts
in der Welt würde einen Kabylen bewegen können, einen Flüchtling an
seine Verfolger, wären sie auch noch so mächtig, auszuliefern. Die politische
Verfassung der Kabylen-Stämme unterscheidet sich auffallend von denen der
andern unzähligen Völkerschaften, welche den großen afrikanischen Kontinent
bewohnen; denn während jene alle Abstufungen von dem abschreckendsten
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