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1. Bd. 2 - S. 438

1903 - Langensalza : Greßler
438 Jammerszenen von Lissabon, Messina, Lima und Riobamba war erlebt worden, wiederholte sich an dem Schreckenstage des 26. März 1812. Die unter dem Schutte vergrabenen Verwundeten riefen die Vor- übergehenden laut flehend um Hilfe an; über 2000 wurden hervor- gezogen. Nie hat Wohl das Mitleid sich rührender und ersinderischer gezeigt als in den Anstrengungen, welche gemacht wurden, um den Un- glücklichen, deren Seufzer man hörte, Hilfe zu reichen. Es mangelte gänzlich an Werkzeugen zum Nachgraben und Wegräumen des Schuttes, man mußte sich also der Hände zur Hervorgrabung der Unglücklichen bedienen. Die Verwundeten sowohl, als die aus den Hospitälern Ge- retteten, wurden am Gestade des kleinen Guyaraslusses gelagert. Hier konnte der Schatten der Bäume den Menschen allein Obdach gewähren. Die Betten, die Leinwand zum Verband der Wunden, chirurgische Werk- zeuge, Arzeneien, alle Gegenstände der ersten Bedürfnisse waren unter dem Schutt begraben. In den ersten Tagen mangelte alles, sogar Nahrungsmittel. Auch das Wasser war im Innern der Stadt selten geworden. Die Erdstöße hatten teils die Brunnenleitungen zerschlagen, teils waren durch das eingestürzte Erdreich die Quellen verstopft. Um Wasser zu bekommen, mußte man den Gnyarasluß hinabsteigen, wo es wieder an Gefäßen zum Schöpfen fehlte. Die Bestattung der Toten war sowohl durch Religion, als durch die Sorge für die Gesundheit geboten. Es war jedoch unmöglich, so viele Tausende zu bestatten: es wurden daher Kommissarien ernannt, die für die Verbrennung zu sorgen hatten. Mitten zwischen dem Schutte der Häuser wurden Scheiterhausen für die Bewohner errichtet, und dieses traurige Geschäft dauerte mehrere Tage. Unter diesem allgemeinen Jammer vollzog das Volk die religiösen Gebräuche, mit welchen sie am ehesten den Zorn des Himmels zu besänftigen hofften. Einige stellten feierliche Prozessionen an, bei welchen sie Leichengesänge ertönen ließen. Andere, von Geistesverwirrung befallen, beichteten laut aus der Straße. Es ereignete sich in Caracas, was in der Provinz Quito nach dem schrecklichen Erdbeben vom 4. Februar 1797 geschehen war. Viele Ehen wurden von Personen geschlossen, die seit Jahren ohne priesterliche Ein- segnung zusammen gelebt hatten; Kinder bekamen jetzt Eltern, von denen sie früher verstoßen waren; Rückerstattungen wurden von Leuten verheißen, die niemand eines Diebstahls beschuldigt hatte: Familien, die lange in Feindschaft miteinander gelebt hatten, versöhnten sich im Gefühle des gemeinsamen Unglücks. Wenn jedoch das allgemeine Unglück bei einigen die Sitten milderte und das Herz dem Mitleid öffnete, fo ge- schah auch hier wieder bei andern das Gegenteil, sie wurden nur ver- härteter und unmenschlicher. In großen Nöten sieht man, daß gemeine Seelen die Güte des Gemüts weniger als seine Stärke beibehalten. Das Unglück ist wie das Studium der Wissenschaften und der Natur, nur wenige werden durch dasselbe veredelt, in ihrem Gemüte er- hoben und in ihrem Charakter gebessert.
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