1. Bd. 2
- S. 347
1886 -
Langensalza
: Greßler
- Autor: Mauer, August
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
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aufgehalten; heut muß er die Gastfreundschaft eines Hirten oder Land-
manns in Anspruch nehmen, morgen muß er mitten im Walde über-
nachten und seinen spärlichen Mundvorrat mit seinem treuen Tiere
teilen. Nun nähert er sich einer tiefen Schlucht am großen Rio del
Norte, durch welche sich der eingeengte Strom mehrere Meilen weit
ergießt. Die Wände der Schlucht fallen an manchen Stellen senkrecht
ab, während sie an anderen über den an ihrem Fuße tobenden Strom
noch hinweghangen. Hier scheinen die Felsen in die Tiefe hinabstürzen
zu wollen, dort sind sie wild aufeinander getürmt, so daß starke Nerven
und ein sicherer Fuß erforderlich fiud, um ungestraft über sie weg-
zuschreiten. Solche großartige Landschaften haben für den Reifenden
unendlichen Reiz und der Freund der Natur könnte sie wohl stunden-
lang bewundern; ein Arriero jedoch wirft ihnen nur einen flüchtigen
Blick zu und wendet sich ab, um feiner Pflicht gemäß seinen Weg ohne
Aufenthalt fortzusetzen.
Aber im Schatten jenes Felsens an der Seite des schmalen Pfades
erhebt sich etwas, bei dessen Anblick er fein Maultier unwillkürlich zu
einem schnelleren Schritte antreibt. Es ist ein plumpes Kreuz, das
auf einem Steinhaufen steht und die Stelle bezeichnet, wo vor nicht
langer Zeit der Leichnam eines ermordeten Arriero gefunden worden
ist. Derartige an einsamen Wanderern verübte Mordthaten kommen
in den Gebirgspässen, namentlich in den abgelegenen Teilen des Landes
so häufig vor, daß manche Wege mit Kreuzen fast eingefaßt sind und
man auf einer Reise im Gebirge Hunderte von solchen traurigen Denk-
zeicheu zählen kann. Kein Wunder, wenn jedes derselben den Arriero
mit Entsetzen erfüllt und er, um den widerwärtigen Anblick schnell
wieder los zu werden, sein treues Tier zur größten Eile antreibt.
Jetzt endlich liegt das herrliche Thal von Mexiko vor ihm,
dessen Anblick schon das Herz manches müden Wanderers entzückt und
erquickt hat. Die Ebene zu seinen Füßen ist mehrere Meilen weit mit
üppigen Maisfeldern bedeckt, zwischen denen sich grüne Aloe-Reihen
hinziehen. Große Seeen im strahlenden Sonnenlicht funkelnd, blumige
Felder und schön bewaldete Anhöhen verleihen der fruchtbaren Ebene
den Reiz der größten Mannigfaltigkeit. Dann folgen weite Strecken
mit Pfeffer-Pflanzen, die hier und da von freundlichen Dörfern unter-
brochen werden. Aus den Feldern sind indianische Arbeiter in großer
Zahl beschäftigt, und auf den Landstraßen bewegen sich lange Reihen
von Maultieren. Die prächtige Hauptstadt selbst mit ihren großartigen
Kirchen und Türmen, ihren geräumigen Plätzen, ihren schön angelegten
Straßen, ihren mit flachen Dächern und Balkönen versehenen Palästen
und ihren anmutigen Gärten ist in der hellen Atmosphäre deutlich
sichtbar. Die herrliche Aussicht wird, wo der Blick sich in die ver-
schwindende Ferne verliert, durch Gebirge begrenzt, die in den selt-
samsten Gestalten emporsteigen und ihre schneebedeckten Gipfel bis in
die Wolken erheben. Was aber dem entzückenden Bilde seinen größten