1. Bd. 2
- S. 392
1886 -
Langensalza
: Greßler
- Autor: Mauer, August
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
392
die Gewässer von einem Flächenraume zu, der fast zehnmal größer
als Deutschland ist. Flüsse vereinigen sich mit ihm, die Europas
größten Flüssen an Wassermenge gleichkommen. Von seiner Quelle
ab, die in Ober-Peru gelegen ist, führt er den Namen Maran-
non, von der Mündung des Aucayali bis zu der des Rio
Negro heißt er Silismoes und von da weg bis zur Mündung
Amazonen ström. Sein Lauf geht durch die ungeheuern Wälder
Brasiliens. Seine jährlichen Anschwellungen beginnen im Sep-
tember und erreichen im März ihre höchste Höhe. Dieses Steigen
und Fallen ist eins der großartigsten Naturereignisse. Sobald der
Strom in gewisser Höhe über seine sandigen Inseln hinslutet und
Schilf und Gräser bedeckt, verlassen die Vögel diese Orte und ziehen
landeinwärts oder dem O r i n o c o zu. Öde und schweigsam wird
die Gegeud, die vorher vom Geschrei der Kiebitzen und Möwen ertönte,
und Fische spielen da, wo vorher Krokodile ruhten und Wasserschweine
und Tapire ihre Nahrung suchten. Schneller und stürmischer tritt
endlich das Wasser über seine Ufergrenzen. Die Bäume erzittern
unter dem Drange der Flut, und scheu flüchten die Tiere nach höher
gelegenen Gegenden. Nur einzelne Vögel, wie der sasanartige
Zigeuner und krächzende Papageien, erhalten sich auf den Gipfeln der
höchsten Bäume. Inzwischen belebt das Wasser die Nahrungssäfte
der Pflanzen, und aus dem strotzenden Laube brechen tausend duftige
Kelche. Während das schlammige Wasser um die Stämme wirbelt,
überziehen sich die Kronen mit einem Schmelze der buntesten Blumen,
und der Wald wird zu einem geschmückten Wassergarten. Fische durch-
schwärmen jetzt die beschatteten Gewässer, und Krokodile und Fluß-
schildkröten haben sich ebenfalls aus den Tiefen in die trüberen und
belebteren Gewässer, die über die Uferflächen sich ausbreiten, herauf
begeben. Etwa vier bis sechs Wochen nach dem höchsten Wasser-
stande treten die mit Schlamm nun überzogenen Waldslächen wieder
aus der Flut hervor, Gras und Unterholz sproßt üppig nach, und die
Tiere kehren nach und nach zurück in ihre alten gewohnten Plätze.
Eine Fahrt aus dem Riesen aller irdischen Ströme läßt zwar nicht
gewerbliche Städte und liebliche Landhäuser und Dörfer, wie unsere
deutschen Ströme, an seinen Usern schauen, aber eine mächtige Natur
zieht an den: Reisenden vorüber. Ein einziger Urwald deckt die
Gegend, in die der Marannon aus den Anden herausbricht. Nach
Aufgang der Sonne und wenn die Sonnenwärme sich neu gestärkt
und gekräftigt hat, kommt Leben in die Bewohner der Wälder.
Große Familien von Affen nehmen den höchsten Gipfel der Bäume
ein, wo sie nicht mehr der Pfeil des Indianers zu erreichen vermag.
In behaglichen Stellungen sitzen die Brüllaffen der Morgensonne
zugewendet, sie mit ihrer rauhen, schallenden Stimme zu begrüßen.
Die meisten Tiere fliehen in jener Stunde die niedrigsten Stellen
der Waldungen, wo unter den platten, dichten Kronen der tropischen