1884 -
Calw [u. a.]
: Verl. der Vereinsbuchh.
- Autor: Behr, Friedrich, Schwarz, Eduard, Frohnmeyer, Immanuel
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Das Deutsche Reich als ganzes. 245
heit und Verstand; der des Süddeutschen entsprechend der mannigfaltigeren Gestaltung
seiner Heimat mehr Gemüt und Phantasie. Auch das Glaubeusbekenntnis
trennt noch die Völker. 28 416000 oder fast 2/3 aller Einwohner sind Protestanten,
die hauptsächlich im Norden und in der Mitte wohnen, 16 239 000 oder 1u Katho-
liken, im £>., S. und W. (die Polen in den östlichen Provinzen; die Bewohner von
Altbayern, Lothringen, Rheinland und Westfalen). Dazu kommen, überallhin zer-
streut, ll2 Mill. Juden. Zu keiner Staatskirche halten sich 100 000 Sektierer. Ferner
einige Griechen, Armenier u. s. w. — Die katholische Kirche im deutschen Reich hat
5 Erzbistümer und 19 Bistümer. Jene sind: Gnesen-Posen, Köln (auch Prag und
Olmütz greifen nach Schlesien hinein); München-Freising, Bamberg; Freiburg.
§ 235. Der deutschen Nation ist von dem Schöpfer eine glückliche Begabung zu
Teil geworden: sie hat ein ziemlich gleichmäßiges Maß aller Seelenkräfte der menschlichen
Natur empfangen, somit die Fähigkeit, sich nach allen Richtungen derselben auszubilden,
und die Empfänglichkeit, andere Naturen zu verstehen und in sich aufzunehmen, und sie mit
ihrer eigenen Weise harmonisch zu verschmelzen. Das Innerste aber der deutscheu Volksart ist
eine gewisse Herzlichkeit, ein Gefühl für das Heilige, für Recht und Sitte. Hiedurch
ist der Deutsche ganz besonders befähigt zu inniger Hingebung, Liebe und Wohlwollen.
Er bedarf zu seinem Glücke keiner äußeren Herrlichkeit nud Pracht; er findet leicht sein
Genügen in sich selbst, und in der ärmsten Hütte sowohl als im angenehmsten Komfort.
Sein eigenstes Behagen ist ihm daher beim Umgange mit Andern trauliche, harmlose
„Gemütlichkeit", für welche kein anderes Volk der Welt einen Sinn, nicht einmal ein Wort
hat. Selbst der deutsche Stolz auf sich selbst ist harmlos und selten abstoßend. Aus dieser
Gemütlichkeit entspringt auch die Vorliebe für die Musik und den Gesang, in welchen
es die Deutschen vielen Völkern zuvorthun. — Daher ist auch das Familienleben
bei keiner anderen Nation so innig und wahr; es bildet den Herd alter guter Sitte, der
Treue und Ehrenfestigkeit, und besonders der „Würde der Frauen". Aus dieser Grund-
richtung ihres Wesens geht denn auch die Kraft und Tiefe der Empfindung, aber auch
die Zartheit, Sinnigkeit und Verschämtheit des Gefühls hervor, welche die unverdorbenen
Naturen kennzeichnet. Dazu gesellt sich aber eine gewisse Langsamkeit und Umständlichkeit
des Deutschen, welche der gewandte Romane verspottet, so gut als die Formlosigkeit und
Unseinheit seines Benehmens, und seine Selbstzufriedenheit bei mäßigen Leistungen. Weil
er gemütlich und häuslich ist, hält sich der Deutsche leicht für Alles, was man von einem
Menschen verlangen darf. Sich in eine knappe Form begeben, sich organisieren, zentrali-
sieren lassen mag er nicht.
Wie keine Nation sonst, vermag er sich in fremde Art hineinzuleben, allen
gerecht zu werden; er scheint wie berufen, das geistige Leben der Völker des ganzen Erd-
balls zu vermitteln, in einem alle umfassenden Weltbürgertum. Daher sind die Deutschen beson-
ders gute Historiker, Sprachforscher und Geographen, man denke an Niebnhr, Ritter, Ranke,
Grimm, Humboldt. Daraus geht denn freilich auch ein gutes Teil Fremdsucht hervor, die mit
anderen Volksweisen eine Art Götzendienst treibt, ein widerliches Nachäffen des fremden,
plump aufgefaßten Elements; und ebenso der Waudersinn, der den Deutschen in die weite
Welt hinausführt und leicht zur Weltläuferei wird.
Sodaun hängt mit diesem Bestreben, die ganze Welt zu verstehen, besonders aber
mit seiner Richtung nach der Tiefe, nach dem Innersten der Dinge, seine Vorliebe für
alles Studieren, besonders aber für die Philosophie zusammen, sowie mit der letzteren
seine Neigung zur Träumerei und Schwärmerei. Und ebenso seine oft übertriebene
Gründlichkeit, sowie sein Aberglaube an die Macht des beschriebenen Papiers, und sein
naives Zutrauen, als habe Jedermann die gleiche Rechtsachtung. — Die Deutschen sind
dadurch andere», praktischeren Nationen, den Engländern, Franzosen, Holländern, Jta-
lienern u. s. w. nicht allein das Ziel ihres Spottes geworden, — weil sie z. B. für alle
Welt ein Interesse haben können, das sie ganz hinnimmt, während sie für ihre eigene
Heimat wie blind sind. Oft haben sie durch das thatenlose Zuwarten, das grundlose
Wünschen und Hoffen, das unentschlossene Hin- und Herdenken und Reden, sowie durch
das unmännliche Sich-Schmiegen die wichtigsten Wendepunkte und Entscheidungszeiten