1884 -
Calw [u. a.]
: Verl. der Vereinsbuchh.
- Autor: Behr, Friedrich, Schwarz, Eduard, Frohnmeyer, Immanuel
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Der Zar.
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betrachtet sich als den von Gott berufenen Bekämpfer und Überwinder aller Gott-
losigkeit und Empörung, gemäß dem alten Wappen von Moskau, wo der h. Georg
den sich bäumenden Lindwurm niederstößt. Er vereinigt in sich alle geistliche und
weltliche Gewalt, ist alleiniger Gesetzgeber, Regent und Richter, sein Wille (U k a s,
Dekret) hat göttliche Sanktion.*) Daher haben alle Handlungen des Kaisers einen
Charakter von Religiosität, der dem Volke den ehrerbietigsten und unbedingten Ge-
horsam zur Gewissenssache macht. Zugleich ist der Kaiser in den Augen der Nation
der von Gott auserwählte Vertreter der wahren Religion des h. Rußland; er trägt
die priesterliche Tiara um sein Diadem gewunden. Daher das hohe Ansehen, die
unbegrenzte Verehrung, die warme und kindliche Liebe des russischen Volkes zu seinem
Kaiser, es kriecht nicht vor ihm, redet ihn auch mit „Du" ganz als Vater au.
Alles Gute kommt vom Kaiser, jede Unbill fällt nur den schlechten Werkzeugen
seines Willens zur Last. Der Zar ist wie die Sonne, um die die russische Nation
sich bewegt, von der sie Licht und Leben und alle Herrlichkeit empfängt.
Fügt man sich nun in diese Grundsätze, und vor allem in den kaiserlichen
Willen, so lebt man in Rußland so frei als irgendwo in der Welt.**) Wer das
nicht kann, mag mit einem Mal über Nacht aus dem Bette geholt, aus einen Karren
gesetzt und über die Grenze gebracht, oder vielleicht in Ketten, mit abgeschorenen
Haaren und für immer ausgetilgtem Namen von halbwilden Kosaken nach Sibirien
transportiert werden, wo er in Bergwerken oder in leichterer Abgeschlossenheit von
der Zivilisierten Welt seine Verwegenheit bereuen mag. Temperiert ist aber der Despo-
tismus durch Palastrevolutionen; denn in keinem Reiche sind schrecklichere Ver-
schwörungen und Regentenmorde vorgekommen, als in Rußland, hauptsächlich durch
die Parteien des Hofadels.
§ 470. Ackerbau und Viehzucht, Fischerei und Jagd, Bergbau und Handel
sind die Hauptbeschäftigungen der Russen. Nicht gering ist jedoch auch ihre Industrie.
Rußland liegt au viermeeren, nach jeder Weltgegend zieht eines. Aber
sie alle sind nur Meerbusen oder Binnenmeere, dazu einen großen Teil des Jahres
durch Eis geschlossen, oder stürmisch und gefährlich. Daher sind die Russen, trotz
ihres ausgezeichneten Handelstalents und praktischen Geschickes, doch kein großes
Handelsvolk geworden. Jene vier Meere sind: im N. das Weiße Meer und die
Ostsee; im S. das Schwarze Meer und der Kaspi-See.
Dennoch ist der S e e h a n d e l bei der großen Ausdehnung des Reiches und
dem Produktenreichtum Rußlands bedeutend, besonders in Petersburg und
Riga, dann Odessa (und Taganrog), A r ch a n g e l und A st r a ch a n. — Die
Handelsflotte zählte 1880 4465 Seeschiffe (worunter 268 Dampfer) von 446 000
Tonnen; die Matrosen sind meist Finländer oder Ausländer, im S. hauptsächlich
Griechen. Aber ein Drittel des ganzen russischen Seehandels ist in den Händen der
Engländer. Jährlicher Schiffsverkehr etwa 14 000 ein- und auslaufende Schiffe.
Die Ausfuhr nach Europa (und Finlaud) betrug im Jahr 1880 486 Mill. Rubel und zwar
allein über die Ostsee 200 Mill., vorzugsweise nach Großbritannien; die Einfuhr dagegen
*) Vor Jahrhunderten bestand auch dort ein Verfassungsleben, worin die Macht des Zaren be-
schränkt war. Noch im Jahr 1682 wurde die Landesversammlung (Duma) einberufen, die aus freigewählten
Vertretern der Geistlichkeit, der Städte und des Landes bestand, um ihre Zustimmung zur Vernichtung der alten
Nang- und Klassenbücher einzuholen. So hätte eine liberale Reichsverfassung selbst in Rußland einen alten
nationalen Boden!
Daher zieht auch der Russe sein Rußland aller Welt vor. Er gibt wohl zu, daß in den Westländern
viel Herrliches zu finden sei, aber er glaubt auch, es sei dort viel mehr Plackerei, Knickerigkeit, Lächerlichkeit,
Kleinlichkeit zu Hause, und jene russische Freiheit der Bewegung und des Lebens suche man sonst überall vergeblich.