1879 -
Grimma
: Gensel
- Autor: Oberländer, Hermann
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 3
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
— 230 —
4. Unter einem ununterbrochenen Anfthauuugs- und Wiedergefrierungs-
Prozeß verwandelt sich der Firn, bei gleichzeitiger Einwirkung von Druck,
allmälig in Gletschereis, welches im Haushalte der Natur, zuweilen auch
für das Menschenleben von größter Wichtigkeit ist.
a. Wie die Gletscher höchst wahrscheinlich die Tiefen der Alpenseen,
deren Klüfte sie ehemals bedeckten, vor dem Schicksal bewahrten, von
Schuttmassen ausgefüllt zu werden, so wurden auch die bei der
Hebung der Steilküsten entstandenen und später erweiterten Spalten nur
dadurch erhalten, daß rasch Gletscher von ihnen Besitz nahmen. Diese Glet-
scher verzögerten das Ausfüllen der Sunde durch Verwitterungsschutt, sowie
die saufte Böschung der Felsenwände. Darum konnten an Steilküsten Fjorde
nur dort entstehen, wo Gletscher vorhanden waren, und die Fjorde selbst sind
ein Zengniß einer vormaligen, jetzt im Rückzug begriffenen Eiszeit. Ihre
Bildung ist geknüpft an reichlichen Niederschlag, wie ihn eine ergiebige
Gletscherbildung verlangt, und an eine niedrige Temperatur, also an hin-
reichende Polhöhe, wie sie das Auftreten der Eiszeit erheischt. In heißen
Ländern fehlen die Fjorde deswegen, weil sie dort, kaum entstanden, rasch
wieder durch Trümmer verschüttet wurden.
b. Die Gletscher vermehren einerseits die Zugänglichkeit des Hoch-
gebirg es, indem die tiefen Schluchten unübersteiglich fein würden, wenn
nicht Schnee- und Eisbrücken einen Weg über dieselben bahnten ; andererseits
gewannen manche Gletscher in Folge ihrer allmälig vorwärts schreiten-
den Bewegung seit Jahrhunderten so bedeutend an Ausdehnung, daß sie
früher selbst für Pferde gangbare Gebirgspässe völlig verschlossen
haben. So sind mehrere Pässe in den Gebirgsgruppen des Montblanc, des
Monte Rosa und des Berner Oberlandes, die noch im 15. Jahrhundert frei
waren und sogar von ganzen Processionen überschritten wurden, im Laufe
des 18. Jahrhunderts immer schwieriger gangbar und zuletzt theils für
Saumthiere, theils sogar für Fußgänger völlig unzugänglich geworden. Der
Lötfchenpaß in der Nähe der Gemmi, der noch vor weniger als 100 Jahren
allgemein benutzt wurde, ist heutzutage vollständig vernichtet. Der Monte-
moro, der den kürzesten Uebergang aus dem Wallis nach dem Lago maggiore
bildet, hatte einstmals für den Verkehr nach Italien größere Bedeutung, als
der nahe Simplon; ein sorgsam gepflasterter Saumweg führte über ihn hinab.
Jetzt haben sich zu beiden Seiten des Joches so ausgedehnte Gletschermassen
gelagert, daß selbst der Fußgänger sie nur mit Anstrengung überschreitet.
Von Zermatt nach Evolena zogen ehedem kirchliche Processionen alljährlich
über das Joch zwischen der Dent Blanche und der Dent d'erin, und die Wal-
liser Protestanten verkehrten noch zu Ende des 16. Jahrhunderts quer über
die Hochgebirge des Berner Oberlandes mit ihren Glaubensgenossen in
Grindelwald. Den Anfang und das Ende dieses Bergpfades bezeichneten
zwei Kapellen der heiligen Petronella. Seit Jahrhunderten sind die Kapellen
unter dem Eise verschwunden, und den einen oder den andern der Bergüber-
gänge zu versuchen, gilt jetzt fiir ein verwegenes Wagestück. — Ebenso scheinen
in Asien die Gletscher des Karakorum im Laufe des Jahrhunderts gleichmäßig
vorgeschritten zu sein. Der Jusserpo-Paß, den man sonst zu Pferde pafsirte,
kann jetzt nur noch von Fußgängern überschritten werden. Der Gletscher des
Baltoro und der alte Paß über den Mustagh sind ganz unwegsam geworden.
1) Peschel, Neue Probleme der vergl. Erdk., 22.