1912 -
Leipzig
: Wunderlich
- Autor: ,
- Hrsg.: Weigeldt, Paul
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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haben die Länder Westeuropas immer weitere Fortschritte in ihrer
Individualisierung gemacht. Ihr politischer und religiöser Zustand,
ihre ganze Kultur waren am Ende des Mittelalters einförmiger als
heute. Bei Rußland trifft gerade das Gegenteil zu. Die Russen haben
mit Erfolg die Russifizierung der anderen Völker Osteuropas, ihre Ver-
einigung in einer Sprache, einer Sitte, einer Religion in Angriff ge-
nommen. Wer heute die Grenzen Rußlands überschreitet, tritt in eine
fremde Welt, er fühlt sich nicht mehr in Europa, sondern in Halb-Asien.
Er verläßt ein Ländergebiet, dessen Geschichte seit mehr als zwei Jahr-
taufenden die Geschichte der menschlichen Gesittung ist und tritt in ein
neues ein, das an diese Kulturentwickelung sich noch jetzt erst teilweise
angeschlossen hat. Rußland gehört erst seit weniger als zwei Jahr-
Hunderten zur europäischen Staatenfamilie und nimmt in ihr noch
heute eine sehr abgesonderte Stellung ein. Mit Asien, dessen Herrschaft
es erstrebt, steht es entschieden in innigerem Zusammenhange als mit
Europa, von welchem es sich durch eine unserem Wirtschaftsleben feind-
liche Zollgrenze abschließt.
Überschauen wir endlich — um wenigstens den wichtigsten Punkt
des Gegensatzes im Kulturstand herauszuheben — die Arbeitsleistung
des Menschen im Osten und im Westen dieser Zollgrenze, so finden wir
im Westen die Arbeit des Menschen intensiver und fruchtbarer als die
der Natur, während an den Erzeugnissen des russischen Reiches die
Naturkraft in weit höherem Grade beteiligt ist als die des Menschen.
Im Westen Europas ist der Mensch schon ziemlich vollkommen Herr
des Bodens, dm er in dichter Zahl bevölkert. Im Osten ist die Natur
noch mächtiger. Die spärlicher verteilte Bevölkerung hat noch lange nicht
alle die jungfräulichen Schätze des Bodens in Ausbeute genommen.
Westeuropa scheint bereits dem Höhepunkt der Leistungskraft, deren es
fähig ist, nahe zu sein. Die Entwicklung des jugendlichen Osten dagegen
gehört zum großen Teil erst der Zukunft an. So zerfällt unser Erdteil
in den verschiedensten Beziehungen in eine reich entwickelte westliche
und eine viel einförmigere, noch unvollkommen entwickelte östliche
Hälfte. Die Grenzlinie, welche beide scheidet, ist die bedeutungsvollste,
welche man innerhalb unseres Kontinentes ziehen kann. An dieser
Grenzlinie liegt Schlesien, eine Ostmark des echten Europas gegen
Halb-Asien. Es ist Schlesiens welthistorischer Beruf, bald der friedliche
Vermittler, bald der Kampfplatz und Kampfpreis der großen Gegen-
sätze zu sein, welche in ihm sich berühren. Doch wie Einschlag und
Kette in einem Gewebe, so kreuzt sich in Schlesiens Entwickelung mit
diesem Berufe ein zweiter.
Schlesien liegt an einer besonders wichtigen Stelle der Grenzlinie
zwischen Ost- und Westeuropa, an dem Schnittpunkt dieser Grenzlinie
mit einer anderen, welche die nördliche und südliche Hälfte Deutschlands
scheidet. Eine Reihenfolge ansehnlicher Gebirge, die man häufig unter