1912 -
Leipzig
: Wunderlich
- Autor: ,
- Hrsg.: Weigeldt, Paul
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
-r 207 —
Vermehrung der wirtschaftlichen Hilfsquellen gewesen. Infolge des
Gemeindebesitzes bleibt der einzelne ans Land gebunden: er muß ein
Landlos mit seinen Rechten und Pflichten übernehmen; Fabrikarbeit
und städtischer Erwerb gehen nur nebenher. Aber die Landlose, die schon
zur Zeit der Ablösung ungenügend waren, sind, da das Gemeindeland
unter immer mehr Personen aufgeteilt werden muß, immer kleiner
geworden und meist für den Unterhalt einer Familie völlig unzureichend;
dazu kommt, daß sich der Boden immer mehr erschöpft und immer
geringeren Ertrag gibt; dazu kommen die furchtbar hohen Steuern,
die mit unerbittlicher Strenge eingetrieben werden, dazu die Bedrückung
und Benachteiligung durch die Gutsbesitzer, die seit der Aufhebung der
Leibeigenschaft kein Interesse mehr am Wohlergehen der Bauern haben.
Auch die Löhne in den Fabriken und für städtische Arbeit sind, den
geringen Leistungen entsprechend, erbärmlich.
Infolge dieser Verhältnisse besteht seit Jahrhunderten, aber heute
mehr als je, ein Mißverhältnis zwischen den Bedürfnissen und den
Mitteln zu ihrer Befriedigung. Dies Mißverhältnis kommt schon in
der Ernährung zur Geltung. Das russische Volk ist zu magerer Kost
verurteilt. „Unter nordischem Himmel lebt es wie ein Volk des Südens."
Auch die langen und strengen Fasten, die aus dem Süden hierher über-
tragen worden sind, tragen zur Unterernährung bei. Die Nahrung des
russischen Volkes ist überwiegend vegetabilisch. Sie besteht aus Kohl-
suppe, aus Hafer- oder Gersten- oder Buchweizengrütze und aus schlecht
gemahlenem und schlecht gebackenem Roggenbrot. Kartoffeln und
Fleisch werden viel weniger als bei uns gegessen. Einen wichtigen
Bestandteil der Nahrung bilden dagegen während der langen Fasten
Fische, die infolge des kalten, trockenen Klimas in gefrorenem oder
gesalzenem Zustande trotz des unvollkommenen Transportwesens über
das ganze Land verbreitet werden können. Die Nationalgetränke sind
Tee, Kwas (ein dünnes, saures, aus Roggen bereitetes Bier) und
Branntwein. Für gewöhnlich trinkt der russische Bauer wenig, aber
von Zeit zu Zeit betrinkt er sich bis zu viehischer Bewußtlosigkeit; das
Übel soll in den letzten Jahrzehnten durch die Einführung des staatlichen
Branntweinmonopols noch viel schlimmer geworden sein.
Die Kleidung ist an sich den klimatischen Verhältnissen zweck-
mäßig angepaßt. Wurde sie bis vor kurzem ausschließlich vom Bauer
selbst verfertigt, so hat sich neuerdings die Fabrikware mehr und mehr
ausgebreitet. Die Oberkleider sind grobe Gewebe aus Schafwolle; für
die Unterkleidung hat die Baumwolle die Leinwand ziemlich verdrängt,
charakteristisch sind die roten Hemden, die im Sommer vollständig
genügen. Der lange orientalische Überrock wird hauptsächlich von den
Kaufleuten der Städte getragen. Im kalten Winter, in dem sich auch
die nordischen Tiere durch Pelze schützen, trägt fast jedermann den
dicken Schafpelz, der nur den Ärmsten fehlt. Die Armut des Volkes