1912 -
Leipzig
: Wunderlich
- Autor: ,
- Hrsg.: Weigeldt, Paul
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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von der Hülle teils der Barbarei, teils jener eigentümlichen Mischung
von Unreife und Überreife befreit werden muß, um schöne Blüten
hervorzutreiben»
Eine unermeßliche Kluft klafft zwischen dem glitzernden Reichtum
und dem verschwenderischen Leben des hohen Adels und der Armut
und dem Elend des russischen Volkes. Auch in den westeuropäischen
Ländern bestehen große Gegensätze zwischen den Gutsbesitzern und den
ländlichen Tagelöhnern, den Fabrikherren und den Fabrikarbeitern;
aber sie sind doch bei weitem nicht so groß wie in Rußland.
Die geistige Kultur. Dasselbe gilt vom geistigen Leben;
es zeigt gleichfalls in Rußland viel größere Gegensätze als bei uns.
Das geistige Leben der höheren Klassen und des Volkes ruht auf ganz
verschiedenen Grundlagen; während jene seit Peter dem Großen euro-
päische Bildung aufgenommen haben, ist dieses noch so ziemlich im
alten Bildungszustande verharrt.
Die Bildung des Volkes ist noch sehr gering. Wir haben
ja gesehen, wie wenig der Staat für das Schulwesen tut. Auf die
schulbesuchende Jugend kommen nur 21/2^/0 der Bevölkerung, gegen-
über 181/2 % im Deutschen Reich, 10—11 0/0 in Spanien und Italien.
In vielen Dörfern kann kein Mensch lesen; die Regierungserlasse müssen
zur Entzifferung erst in die Stadt geschickt werden. Auch der Kauf-
mann und die Geistlichkeit haben eine sehr geringe Bildung. Dabei hat
der Russe auch nicht die leichte natürliche Auffassung des Südländers,
die so viel Gelehrsamkeit ersetzt. Sein geistiges Niveau ist sehr tief;
dem russischen Bauer geht jede Weltkenntnis und jede klare Auffassung
des Zusammenhanges der Erscheinungen ab, er steht geistig noch ganz
im Mittelalter. Und bisher ist kaum eine Wandlung zum Besseren zu
bemerken. Die geringe Volksbildung wird gar nicht allgemein als ein
Übel anerkannt, sondern von der Regierung und einer großen einfluß-
reichen Partei als ein Vorzug, als ein Schutz vor dem deutschen Sozia-
lismus und Atheismus betrachtet; die aufopfernden, allerdings meist
mit politischem Radikalismus verquickten Bestrebungen der „Intelli-
genz", Schulen zu errichten und überhaupt im Volke Bildung zu ver-
breiten, sind von der Regierung und der Kirche gewaltsam unterdrückt
worden. Zuerst muß der russische Staat frei werden und müssen sich
seine leitenden Kreise von der Notwendigkeit eines geistigen Fortschrittes
überzeugen, ehe sich die Volksbildung bessern kann. Es wird noch
schwerer Kämpfe und langer Arbeit bedürfen, bis das russische Volk
aus seinem geistigen Schlummer erwacht.
Die Bildung und das geistige Leben der oberen
Klassen, zu denen heute nicht mehr bloß der Adel, sondern auch
eine aus dem Volke aufsteigende Klasse zu rechnen ist, sind der des
westlichen Europas verwandt. Die großen geistigen Strömungen, welche
Deutschland, England, Frankreich durchflutet haben, haben sich auch