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1. Lektüre zur Erdkunde - S. 210

1912 - Leipzig : Wunderlich
— 210 — von der Hülle teils der Barbarei, teils jener eigentümlichen Mischung von Unreife und Überreife befreit werden muß, um schöne Blüten hervorzutreiben» Eine unermeßliche Kluft klafft zwischen dem glitzernden Reichtum und dem verschwenderischen Leben des hohen Adels und der Armut und dem Elend des russischen Volkes. Auch in den westeuropäischen Ländern bestehen große Gegensätze zwischen den Gutsbesitzern und den ländlichen Tagelöhnern, den Fabrikherren und den Fabrikarbeitern; aber sie sind doch bei weitem nicht so groß wie in Rußland. Die geistige Kultur. Dasselbe gilt vom geistigen Leben; es zeigt gleichfalls in Rußland viel größere Gegensätze als bei uns. Das geistige Leben der höheren Klassen und des Volkes ruht auf ganz verschiedenen Grundlagen; während jene seit Peter dem Großen euro- päische Bildung aufgenommen haben, ist dieses noch so ziemlich im alten Bildungszustande verharrt. Die Bildung des Volkes ist noch sehr gering. Wir haben ja gesehen, wie wenig der Staat für das Schulwesen tut. Auf die schulbesuchende Jugend kommen nur 21/2^/0 der Bevölkerung, gegen- über 181/2 % im Deutschen Reich, 10—11 0/0 in Spanien und Italien. In vielen Dörfern kann kein Mensch lesen; die Regierungserlasse müssen zur Entzifferung erst in die Stadt geschickt werden. Auch der Kauf- mann und die Geistlichkeit haben eine sehr geringe Bildung. Dabei hat der Russe auch nicht die leichte natürliche Auffassung des Südländers, die so viel Gelehrsamkeit ersetzt. Sein geistiges Niveau ist sehr tief; dem russischen Bauer geht jede Weltkenntnis und jede klare Auffassung des Zusammenhanges der Erscheinungen ab, er steht geistig noch ganz im Mittelalter. Und bisher ist kaum eine Wandlung zum Besseren zu bemerken. Die geringe Volksbildung wird gar nicht allgemein als ein Übel anerkannt, sondern von der Regierung und einer großen einfluß- reichen Partei als ein Vorzug, als ein Schutz vor dem deutschen Sozia- lismus und Atheismus betrachtet; die aufopfernden, allerdings meist mit politischem Radikalismus verquickten Bestrebungen der „Intelli- genz", Schulen zu errichten und überhaupt im Volke Bildung zu ver- breiten, sind von der Regierung und der Kirche gewaltsam unterdrückt worden. Zuerst muß der russische Staat frei werden und müssen sich seine leitenden Kreise von der Notwendigkeit eines geistigen Fortschrittes überzeugen, ehe sich die Volksbildung bessern kann. Es wird noch schwerer Kämpfe und langer Arbeit bedürfen, bis das russische Volk aus seinem geistigen Schlummer erwacht. Die Bildung und das geistige Leben der oberen Klassen, zu denen heute nicht mehr bloß der Adel, sondern auch eine aus dem Volke aufsteigende Klasse zu rechnen ist, sind der des westlichen Europas verwandt. Die großen geistigen Strömungen, welche Deutschland, England, Frankreich durchflutet haben, haben sich auch
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