1903 -
Leipzig
: Wachsmuth
- Autor: Weigeldt, Paul
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schultypen (WdK): Alle Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Alle Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Den ganzen Raum des jetzigen Marschlandes nahm ursprüng-
lich ein weites Haff ein, in das Rhein, Maas und Scheide, sowie
die kleineren Flüsse mündeten. Sobald das Flusswasser in dieses
Becken eintrat und sich über dessen Spiegel ausbreitete, nahm seine
Geschwindigkeit ab, und die mitgeführten Schlammmassen mussten
zu Boden fallen. So wurde das Mündungsbecken seichter und
seichter, bis endlich die Ablagerungen über den Wasserspiegel
emporwuchsen. Durch die Ueberströmungen derselben bei Hoch-
wasser und den darauf erfolgenden Niederschlag der mitgeführten
Sinkstoffe wurden diese Landstriche höher und höher. Dazwischen
strömten die Flüsse, ein- und mehrarmig, bald links, bald rechts
ausweichend, und erhöhten nach und nach nicht nur ihr Bett,
sondern bei jedem bedeutenderen Steigen ihres Wassers auch ihre
ganze Umgebung, die sich immer mehr zusammenschloss.
Neben den Sinkstoffen der Flüsse war es — wie in allen
Deltagebieten — vegetabilische Tätigkeit, die den Landgewinn
förderte. An den zwischen den Stromarmen sich gelegentlich er-
haltenden Wasserspiegeln stellte sich das Rohr ein, durchzog mit seinen
dicken, kriechenden, schnellwachsenden Wurzeln in tausend Schlangen-
windungen den Boden, füllte die muldenartigen Vertiefungen all-
mählich mit einem dichten Filze von Wurzelwerk und Moderstoffen
aus und machte schliesslich, wenn nicht jedes Hochwasser mehr
überströmte, einem üppigen Wiesenwuchse Platz. In sumpfigen
Gegenden siedelten sich torfbildende Pflanzen an und wuchsen bald,
immer neue Schichten abgestorbener Pflanzenteile unter sich be-
grabend, in das Niveau ihrer Umgebung-. So entstanden die aus-
gedehnten Grünlandsmoore, die fast das ganze Marschengebiet land-
einwärts umgeben, sich aber auch mitten in dem fruchtbaren Schlamm-
boden finden.
Auch das Meer hat viel zur Entstehung der Marschen bei-
getragen. Vor dem festen Lande schlickt es bei seiner geringen
Tiefe am Rande und der täglich mehrmals wiederkehrenden ausser-
artig gestalteten Blumen. Zum Veilchen muss man sich herablassen, man muss
mit ihm intimen Umgang pflegen, um es ganz würdigen zu können. Die nieder-
ländische Natur darf man ebensowenig bloss beschauen, man muss in ihr längere
Zeit gelebt haben, man muss womöglich in ihr geboren und aufgewachsen sein,
um ganz mit ihr vertraut zu werden und die versteckten Eeize an ihr zu ent-
decken. Sie ist keine imposante Schönheit, die jedermanns Beifall heischt, sie
ist wie die Geliebte, die Graf Egmont in irgend einem Winkel der Vorstadt
aufsucht."