1895 -
Leipzig
: Hinrichs
- Autor: Buchholz, Paul, Wasserzieher, Ernst
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Hilfsbuch
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde
- Inhalt: Zeit: Geographie
Italiener. 81
Wie um den Kultus steht es um die Kunst des heutigen
Italiens. Sei es in der Musik, sei es in der, Poesie oder der
bildenden Kunst, fast überall finden wir nur Äußerlichkeit, nur
Streben nach Sinnenreiz, Formenschönheit, glänzende Erfindung
und feine Behandlung, selten aber Größe, Tiefe, Würde,
Innerlichkeit.
Keine Kunst aber ist hier so volkstümlich und in tiefster
Natur begründet, so lebensvoll und gesund als die dramatische
Darstellung. Man braucht nur auf eine Stunde sich unter das
Volk in ein Marktgewühl zu begeben, um genngfam inne zu
werden, welch schauspielerische Befähigung jeder Italiener besitzt,
welch ein geborner Schauspieler er ist.
Der leichtlebigen Knabennatur des Italieners steht nichts
so fern als anhaltend tiefer Schmerz, stille Wehmut und stille
Kopfhängerei. Wohl bricht er bei einem herben Verlust zuerst
in heiße Thränen und laute Klagen aus. aber rasch wird der
Gestorbene aus dem Hause geschafft, meistens schon anderen
Tages. An vielen Orten ist's nicht einmal üblich, ihm das
letzte Geleit zu geben. Brüderschaften tragen ihn in eine Kirche,
er wird eingesegnet, gewöhnlich bei Nacht, schnell zu Grabe
gelegt, einige Tage darauf folgt dann in der Kirche das Toten-
amt, und damit ist alles vorbei. Kein Zeichen der Trauer,
nichts verkündet den andern, daß das Haus vielleicht seinen
Herrn, die Familie den treuen Vater, die Kinder die liebende
Mutter verloren haben. Man spricht selbst ungern davon.
Wohl errichtet der Reiche und Vornehme den Abgeschiedenen
kalte Prachtdenkmäler von Marmor in den Kirchen; unbekannt
und fremd aber ist unsere Poesie des Friedhofes, unbekannt ist
es, still die grünen Gräber zu besuchen, sie liebevoll mit Laub
und Blumen zu schmücken, zu bekränzen und zu bepflanzen.
Mit wenigen Ausnahmen bieten daher die gemeinsamen Grab-
stätten in Italien ein Bild der widerwärtigsten und abschreckend-
sten Ode und Kahlheit.
Wie dem Italiener alles tiefere Versenken und Eingehen
in den Geist der Natur verschlossen ist, alle frische Wanderlust
und Freude an Wald und Gebirg abgeht, so fehlt ihm auch
gänzlich unser Sinn für behagliche Einrichtung und Wohnlich-
keit des Hauses, ein Mangel, den er übrigens mit den meisten
Südländern teilen mag. Das Haus gilt dem Italiener wenig,
die Straße alles.
Buchholz, Völkerkunde. 6