1913 -
München
: Seybold
- Autor: Murawski, Friedrich
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
Zelt um das Instrument bilden, während ich an der vom Wind abgekehrten
Seite auf dem Bauche lag, um durch eine kleine Öffnung das Thermometer
abzulesen. Es war nur 9,5° Kälte, aber Westsüdwestwind in Stärke Nr. 8,
d. h. halber Sturm. Das abwärts führende Tal, Sele-nang, lag jetzt am
Nachmittag in tiefem Schatten. Durch seine Mündung hindurch erblickt
man ein Riesenmeer erstarrter Bergesquellen, steile Felsen mit tiefen
Tälern, keine ebenen Stellen, keine Vegetation, nur ein Labyrinth von
Bergen, ein viel kräftigeres, ausgeprägteres und wilderes Relief, als ich
je in Tschang-tang gesehen hatte. Im Westen versperren naheliegende
Partien des Pablakammes die Aussicht. Der Paß, auf dessen hügeligem
Sattel wir uns jetzt befanden, heißt Sela-la oder Se-la und erreicht
die bedeutende Höhe von 55o6 m über dem Meere. Ich sah deutlich,
daß er in der Hauptkette liegen mußte, die weiter östlich die bekannte
Spitze Nien-tschen-tang-la am Südufer des Nam-tso oder Tengri-nor
trägt, und von einigen wenigen Europäern und Punditen schon über-
schritten worden ist. Sie ist eine der hauptsächlichsten und groß-
artigsten Wasserscheiden der Erde, denn von ihren Nordabhängen strömt
das Wasser nach den abflußlosen Seen der Hochebene, von den südlichen
aber nach dem Indischen Ozean!
Nachdem ich in größter Hast mit blaugefrorenen Händen das Pa-
norama gezeichnet und die Namen, die der Führer mir mitteilen konnte,
eingetragen hatte, eilten wir die teilweise mit Schnee bedeckten Geröll-
abhänge auf der Südseite des Passes hinunter. Im Talgrund mit seinen
Eisstücken stiegen wir wieder zu Pferd und begegneten drei berittenen
Tibetern, die acht unbenützte Pferde vor sich hertrieben. Sowie sie
uns erblickten, schlugen sie eine andere Richtung ein und machten einen
großen Umweg, um uns auszuweichen. Vermutlich gehören sie zu
einer großen Räuberbande, die hier droben mit ihrer Beute auf un-
gebahnten Wegen entwischen wollte. Es war zu schön, an diesem
Abend endlich in der Wärme der Lagerfeuer zu sein! Unter schweigendem
Nachdenken schweift der Blick von den Felskämmen, die der Mond
hell bescheint, bis in die schattige schwarze Tiefe des Talgrundes,
wo nur Wölfe in ihren Höhlen hausen. Mir war zumute, als gehöre das
alles mir, als sei ich an der Spitze siegreicher Legionen erobernd
in dieses Land eingezogen und hätte alle Widerstandsversuche besiegt.
Welch glänzende Legionen! Fünfundzwanzig zerlumpte Kerle aus Ladak,
zehn magere Gäule und etwa zwanzig abgetriebene Yaks! Und dennoch
glückte es mir!
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