1913 -
München
: Seybold
- Autor: Murawski, Friedrich
- Sammlung: Geographieschulbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
Wie zwei Buben rannten wir trotz der Sonnenhitze und des unter
den Füßen weichenden Aschenbodens in großen Sprüngen den Berg hin-
auf; ohne es zu ahnen, waren wir schon nahe am Bande der Gipfel-
höhe angelangt, und genau zu dieser Zeit löste sich die Wolkenhülle
so weit, daß der rätselhafte Turm, im Sonnenscheine schimmernd, aus
ihr hervortrat. In einer Minute war der Kraterrand gewonnen; gleich-
zeitig erschien auf ihm in dem weichenden Nebel auch Dr. Hovey in-
mitten eines halben Dutzends seiner Träger; aber nur ein flüchtiger Gruß
wurde gewechselt; er rannte ebenso wie wir über die Hochfläche dem
Fuße des Konus zu. Die uns zugewendete Seite des Mont-Pele-Gipfels
erschien als eine halbkreisförmige Hochebene von durchschnittlich hun-
dert Schritt Breite, die gegen Nordosten von einer kahlen, etwas
höheren Kuppe, der Morne Lacroix, der ehedem höchsten Spitze des
Berges, überragt wurde. Feine, kiesige, graue Asche, vermischt mit
kleinen weißen Bimssteinstücken und vereinzelten vulkanischen Blöcken,
setzte den Boden der Hochfläche zusammen. Jenseits des Grabens, aus
der Tiefe des Kraterkessels, erhob sich nun, jetzt nur kaum noch hundert
Meter von uns entfernt, mit ungeheurer, fast senkrechter Steilwand der
mächtige Konus. Übermäßig solid schien das Gebäude freilich bei
der Kühnheit seiner Architektur nicht zu sein; denn ein paar gewaltige
vertikale Risse durchzogen die uns zugekehrte Steilwand, und wirklich,
während wir hier standen, löste sich von der Südwand ein großer Haufe
von Steinen, um teils nach der abgewandten Seite des Berges, teils in
den Kratergraben zu unseren Füßen hinabzurollen.
Noch zweimal während unserer Anwesenheit auf dem Gipfel wiederholte
sich das, und das helle, knatternde Geräusch dieser Steinstürze hatte
etwas Unheimliches; konnte es doch der Vorbote für den Einsturz
der ganzen Riesensäule sein, und dann wären wir auch, schon durch den
Luftdruck, jedenfalls verloren gewesen. Sonst herrschte aber hier oben
eine tiefe, feierliche Stille. Lautlos stiegen die weißen Dämpfe aus
den Tiefen des Kraterrisses hervor und mischten sich ununterscheidbar
mit den sich bildenden und wieder lösenden weißen Wolken. Wie wir
es heute früh von unten gesehen hatten, krochen die leuchtenden Massen
über die Gipfelfläche dahin und brandeten langsam an dem Felsen-
turm empor, umschwebten wie Geistergebilde seine Flanken und hüllten
ihn zeitweilig wieder gänzlich ein in ihre Schleier. Dann aber trat
er von neuem siegreich hervor, in dieser leise wallenden Bewegung
selbst wie lebendig, und in seiner ätherisch zarten Färbung eher wie
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