1855 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Kiesel, Karl
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Weltgeschichte
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Jungen
Frankreich bis zum Ende des elften Jahrhunderts. 233
meist nur durch die kriegerische Hülfe derjenigen Vasallen durchzusetzen,
zu deren Gunsten sie getroffen wurden. So blieb das Land noch ein
Schauplatz fortdauernder Fehden. Die Unsicherheit, welche dadurch in
alle Verhältnisse kam, und die Rohheit, welche dadurch erhalten und
gefördert wurde, legten auf alle Stände mit Ausnahme desjenigen, der
die Waffen führte, einen schweren Druck. Der Mangel an einer wahr-
haften Königsgewalt ließ es zu keiner geordneten Rechtspflege kommen,
und so blieb überall der Schwächere dem Stärkeren gegenüber schutzlos.
Dadurch schmolz der Stand der Freien immer mehr zusammen, indem
für den, der etwas besaß, der Eintritt in ein Lehensverhältniß die ein-
zige Rettung bot, und der, der nichts besaß, dem Loose der Hörigkeit
oder der Leibeigenschaft verfiel. Hörige und Leibeigene aber befanden
sich unter solchen Umständen in einer wahren Sklaverei, da die Ge-
müther der Herren von der Religion nicht genug gezähmt wurden, um
den Abhängigen menschliche Behandlung zu gewähren. Die Keime,
durch deren Entfaltung sich eine bessere Ordnung der Dinge begründen
konnte, waren zwar vorhanden, aber es bedurfte zu dieser Entfaltung
noch geraumer Zeit und günstig einwirkender Umstände. Der Süden des
Reiches barg, wie er politisch nur in losem Zusammenhänge mit dem
Norden stand, Reste alter Cultur, durch welche sich hier früher die Sitten
milderten und die Mittel zum Widerstande gegen das Walten roher
Kraft bereiteten. Schon durch die Sprache war eine solche Schei-
dung ausgedrückt. Auf einer Linie, welche in der geographischen Breite
des Genfer oder lemanischen Sees Frankreich durchschneidet, mischten
sich die Sprachen des Nordens und des Südens, die nach dem Unter-
schiede des Bejahungswortes die Sprache von Oil und die Sprache von
Ok hießen. Die Sprache von Ok, auch die proven^alische genannt,
hatte sich früher ansgebildet, und in ihr herrschte der romanische Cha-
rakter entschiedener als in der Sprache des nördlichen Frankreichs, wo
theils durch das Uebergewicht der fränkischen Bevölkernng, theils durch
das Hinzutreten der Normannen, obgleich diese die Sprache ihrer neuen
Heimath angenommen hatten, der germanisch-nordische Charakter größere
Geltung behielt. Die ungestörtere Entwickelung ließ die Sprache hier
früher zu einem kunstmäßigen Gebrauche in der Dichtung gelangen und
die Ausbildung der Dichtung förderte wenigstens eine äußerliche Mil-
derung der Sitten. Das Uebergewicht romanischen Charakters bewährte
sich in dem Lande, in welchem frühe das römische Recht zur Gestaltung
der staatlichen Verhältnisse zu Hülfe genommen worden war, auch durch
ein Fortwirken des geschriebenen Rechtes, und eine der Witlkühr gezo-
gene Schranke blieb so, wenn auch nicht in fortdauernder Anwendung,
doch in Anerkennung und erhielt das Bedürfuiß fester Satzungen,
während im Norden nur ein schwankendes Gewohnheitsrecht zur Aus-