1856 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Kiesel, Karl
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schule, Selbstunterricht
- Inhalt Raum/Thema: Weltgeschichte
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Jungen
588 Kaiser Karl V. und die Kirchentrennung in Deutschland.
Volkes die Kirche den Schein, als ob sie diejenige Abgötterei hege, welche
ihr die Gegner zuschrieben, und die Behauptung, daß die neue Lehre
das hergestellte, im Laufe der Zeit durch eigennützigen Betrug verdun-
kelte Evangelium sei, fand Eingang. Dafür waren am thätigsten eben
jene Männer aus den Reihen des Klerus, welche durch Mangel an
geistlichem Sinne sich in einem Zwiespalte mit ihrem Berufe befanden,
namentlich diejenigen, die das von der Neuerung verworfene Cölibat-
gesetz als eine Last empfanden. Das Werk der kirchlichen Umwälzung
befand sich auch im Vortheil durch die größere Schwungkraft, die einem
jeden Kampfe gegen Bestehendes den Vertheidigern des Alten gegenüber
zu Gebote steht. Die Thätigkeit Luthers und der Genossen, die sich ihm
zugesellten, war eine ungemeine. Sie thaten mit großer Rührigkeit für
die neue Lehre, was für die Lehre der Kirche so vielfach versäumt wor-
den war. Der Eifer, mit welchem die Anhänger der neuen Lehre un-
terrichtet wurden, ließ die Meinung aufkommen, daß die Sache, der so
gut gedient werde, auch eine gute sein müsse. Eine große Anziehungs-
kraft übte in dieser Hinsicht die Ausschließung der lateinischen Sprache
aus dem Gottesdienste. Während die Gründe, welche für den Gebrauch
derselben sprechen, von dem Volke kaum gewürdigt werden konnten,
schien sich nun in den Gebeten, die Anfangs zum großen Theile beibe-
halten wurden, ein lange verborgener Schatz zu erschließen. Gleichen
Eindruck machte die Verbreitung der heiligen Schrift in der Volkssprache.
Die Urheber und Verbreiter der neuen Lehre führten mit voller Zu-
versicht die heilige Schrift, in der sie dieselbe gegründet glaubten, zum
Beweise an, und machten sie, da sie mit der Kirche und folglich auch
mit ihrer gesammten Ueberlieferung gebrochen, zur alleinigen Quelle
der christlichen Erkenntniß, aus welcher eine im Laufe der Zeit entstellte
Wahrheit wieder gewonnen werden solle. Wenn daher auch die heilige
Schrift stets ein Gegenstand von Bemühungen der Gelehrsamkeit ge-
wesen und seit Beginn des Bücherdrucks mit Eifer vervielfältigt wor-
den war, so trat sie doch jetzt bei den Anhängern der neuen Lehre in
ein anderes Verhältniß zum religiösen Leben, indem das Volk in ihr
die Bestätigung für den umgeprägten Glauben zu suchen eingeladen
ward. Dadurch sah man einen vielfach mißfälligen Unterschied zwischen
Laien und Klerus, welcher der neuen Lehre überhaupt nicht entsprach,
aufgehoben, auf dessen Aufhebung schon in der hussischen Bewegung die
Forderung nach der Communion unter beiden Gestalten, eine jetzt von den
Anhängern der neuen Lehre allenthalben verwirklichte Forderung, hingezielt
hatte. Daß aber auch unter den Gebildeten und Einsichtigen das Werk
der kirchlichen Umwälzung Freunde und Beförderer fand, erklärt sich aus
der Stellung, in welche die Vertreter der auf erneuerte Bekanntschaft mit
dem heidnischen Alterthume gebauten Wissenschaft, Humanisten genannt,