1866 -
Leipzig
: Teubner
- Autor: Dietsch, Rudolf
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Gymnasium
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Gymnasium, Selbstunterricht
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Die Kirche des Abendlands seit Karls des Gr. Tod.
sie von weltlichen Gerichten unabhängig machten, aber auch die Möglichkeit
einer Verurteilung durch von den Metropoliten geleitete Provinzialsynoden
— ein häufig zur Verfolgung politischer Zwecke gemisbrauchtes Mittel —
erschwerten, endlich die Verwaltung der Bistümer durch Stellvertreter (Chor-
bischöfe) i), welche die Gewalthaber so oft zur Ausbeutung der Einkünfte
benützt hatten, abschnitten? Offenbar konnte die Unabhängigkeit der Bischöfe
innerhalb der Kirche nur dadurch gewart werden, wenn ihnen gegen nach-
teilige Synodalbeschlüße die Appellation an das Haupt zustand, also die schon
längst gehegte Idee von der absoluten Herschaft des Papstes über die
gesamte katholische Kirche praktische Durchführung fand. Andrerseits konnte
man für die die angegebnen Absichten einführenden Satzungen bei dem her-
schenden Geiste der Zeit nur dann auf schnelle und allgemeine Anerkennung
rechnen, wenn sie als der Kirche längst eigen und schon früher in Anwendung
gebracht dargestellt wurden. So griff denn um 850 die fränkische Geistlichkeit
zu einem Betrug, indem unter dem Namen des Jsidorus von Sevilla wol
hier und da mit ächten Bruchstücken vermischte, zum größten Teil aber ver-
fälschte und selbst erfnndne Entscheidungen älterer Päpste (pse udoi si-
tz ori sch e Decretalen)-) znsammengestellt wurden, welche die gewünschten
Satzungen des Kirchenrechts enthielten. Trotzdem daß sie den Betrug voll-
ständig durchschauten, machten doch alle Gewalten der Kirche davon ungescheuten
Gebrauch, weil sie die Satzungen für so notwendige Consequenzen der in
der Kirche liegenden Ideen erkannten, daß man darüber die Zweifelhaf-
tigkeit, ja Falschheit der Belege gar nicht in Anschlag bringen zu dürfen
glaubte^). 1
1) Die älteste Kirche hatte in den Chorbisch'öfen eine sehr heilsame Einrichtung.
Sie waren bestimmt, des Bischofs Stelle vertretend, die zerstreuten und fernen
Gemeinden zrr besnchen mrd mit den Sacramenten zu versehen (daher der Name
Xmpcnlcxoncn, Landbischöfe). Die Missionssprengel konnten derselben ailch nicht
entraten. Aber in der fränkischen Kirche war ein doppelter Misbranch eingerissen,
indem einmal viele Bischöfe solchen Stellvertretern die Ausübung ihrer Pflichten
überließen, um ungestört andern, häufig ganz ungeistlichen Beschäftigungen nach-
zugehen, sodann aber Machthaber hänfig die Bistümer selbst länger unbesetzt ließen,
um wärend Chorbischöfe das Amt verwalteten, die Einkünfte zu genießen. Baur
Kirchengcsch. des Mittelalters S. 100. — 2) Von den Ii 1. S. 200 Anne. 5. erwähnten
Decretalen ward in Spanien um 635 eine Recension in Umlauf gesetzt, welche man
dem berühmten gelehrten Erzbisch. Jsidorus von Sevilla znschrieb. Sie fand in der
Kirche allgemeine Anerkennung und die neuen Decretalen sollten als ein noch nicht
in die Öffentlichkeit gelangter, von Jsidorus selbst znsammengestellter Teil erscheinen.
Die ersten Spuren von ihrem Vorhandensein oder doch dein Vorhaben ihrer Heraus-
gabe finden sich 853 iu den Verhandlungen der Synode zu Soissons, bestimntt werden
sie ailgeführt iu denen der Synode zu Qnierzy 857 (Banr a. a. O. S. 111 Anm.). Daß
die Streitigkeiten wegen Ebbo's und der von ihm geweihten Priester die Veranlaßnng
gegeben haben und demnach der Betrllg der Geistlichkeit des reimser Erzbistums zllr Last
fällt, kann jetzt nicht mehr als ausgemacht gelten (Baur a. a. O. Dümml. S. 222 n.
248. 11 68). Wenn aber auch ans den Bestimmungen über den Primat und die Chor-
bischöfe zll schließeil ist, daß der Erzbischof Hinkmar von Reims einen Anteil an
der Verbreitung gehabt hat (Dünlml. S. 379), so kann man doch um des unten 2
Anm. zu erwähnenden willen nicht zugcbeil, daß die,Zusammenstellung und Redaction
von ihm vollzogen oder ilur überwacht worden sei. Übrigens beweisen die Capitnla-
riensamnililng des Mainzer Diaconlis Bciledict (vor 847 iiilter Teilnahme des
Erzbisch. Otgar unternommen. (Dümml. S. 239) und die Capitol des Bisch. Angil-
ram voll Metz, daß auch außerhalb des reimser Sprengels in der fränkischen Kirche
dasselbe Bedürfnis, welches die psendoisidorischen Decretalen erzeugte, vorhanden war.
Beide sind in beit lctztcrn benützt. — 3) Wichtig ist, was Bailr a. a. O. S. 113 f.
beibringt über die Stellung, welche Nicolans 1 zu den ihm wahrscheinlich erst 864 durch
Bisch. Rothad bekanilt gewordneil psendoisidorischen Decretalen einnimmt.