1. Bd. 1
- S. 357
1854 -
Leipzig
: Engelmann
- Autor: Weber, Georg
- Auflagennummer (WdK): 6
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schulanstalt, Selbstunterricht
- Inhalt Raum/Thema: Weltgeschichte
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Jungen
Die Völkerwanderung.
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Lebensweise. Sie bedürfen keines Feuers noch schmackhafter Speisen; ihre Nahrung besteht
aus Wurzeln von Kräutern des Feldes und halbrohem Fleische von jedwedem Vieh, welches
sic unter den Schenkeln ein wenig mürbe reiben. Häuser haben sie keine, und meiden sie
als wie Gräber, selbst Hütten von Rohr findet man bei ihnen nicht; unstät durch Gebirg
und Wald umherstreisend lernen sie von Kindesbeinen aus Hunger und Durst und den
Wechsel der Witterung ertragen. Ihre Kleider sind von Linnen, oder aus Fellen von klei-
nem Gewild zusammengenähet, und sie tragen nicht ein anderes Kleid im Haus und ein
anderes außen, sondern eins und dasselbe behalten sie auf dem Leib, bis es in Lappen und
Fetzen zerfällt. Mit gebogenen Mützen decken sie den Kopf, mit Bocksfellen die rauchhaa-
rigen Schenkel; ihre unförmlichen Schuhe hindern sie an freiem Gang. Deshalb sind sie
zum Fußgang untüchtig; aber auf ihren Pferden, die zwar häßlich, jedoch dauerhaft sind,
hängen sie wie angewachsen, und verrichten auf denselben ihre gewöhnlichen Geschäfte. Bei
Tag und Nacht ist jeder zu Pferd, kauft und verkauft, ißt und trinkt und schläft auf den
Nacken des Thicrcs gelehnt, zu Pferd halten sie die Versammlungen und Berathungen.
Kein strengesherrschcrthum fesselt sie; sie folgen ihren Häuptlingen ohne festes Band. In
den Kampf gehen sie keilförmig geordnet und mit gräßlichem lautem Geschrei. Gewandt
und behende, wie sie sind, sprengen sie dann absichtlich mit einem Male auseinander, und
zerstreuen sich ordnungslos zum wüsten Morden. Man sieht sie weder Verschanzungen stür-
men, noch ein feindliches Lager plündern, so reißend dringen sie immer vorwärts. Aus der
Ferne kämpfen sie mit Wurfspeeren, deren Spitzen künstlich aus scharfen Knochen gefertigt
sind, in der Nähe mit dem Schwert; fürchterlich aber sind sie zumeist dadurch, daß sie dem
Feind, während er auf ihre Klingen achtet, Schlingen Überwerfen, um die Verstrickten am
Widerstand zu hindern. Pflug und Sterze kennen sie nicht. Ohne Hof und Heerd, ohne
festen Sitz und Gesetz schweifen sie unstät, gleich Flüchtlingen mit ihren Wagen umher;
diese sind ihre Wohnungen, wo ihre Weiber und Kinder sind, bis sie erwachsen sind. Än-
dcrswo geboren, in fernen Landen aufgezogen, weiß Keiner anzugeben, woher er stammt.
Treulos, wankelmüthig, jeder neuen Hoffnung hingegeben, folgen sie ganz dem Drang des
Triebes. Wie das unvernünftige Vieh kennen sie keinen Unterschied zwischen Tugend und
Laster; von Glaube und Religion haben sie keinen Begriff. Nach Geld sind sie so ausneh-
mend lästernd und so leicht gereizt, daß sie wohl mehrmals an demselben Tage sich entzweien
und wieder versöhnen.
tz. 239. Im Abendlande erlag der von dem Dichter Ausonius
(§. 236. Not.) erzogene, der Jagd mit Leidenschaft ergebene Kaiser Gra- 383.
tun den Streichen des abgefallenen Statthalters von Britannien Maxi-
mus. Geschreckt durch Theodosius' kräftige Haltung begnügte sich dieser
anfangs mit den jenseits der Alpen gelegenen Provinzen, indeß Gratians
Bruder Valentinian Ii. und seine schone, dem Arianismus ergebene
Mutter Iustina Italien regierten. Als aber Maximus, im Vertrauen auf
die religiöse Spaltung, auch Italien zu erobern gedachte, verlor er in einem
Treffen an der Save gegen Theodosius Sieg und Leben, worauf dieser den
zwanzigjährigen Valentinian, mit dessen schöner Schwester er sich vermählt
hatte, als Kaiser des Abendlandes anerkannte, ihm aber den tapfern Gallier
Arbogast als Regent zur Seite setzte. Herrschsucht und Neid erzeugten 391.
jedoch bald Zwietracht zwischen diesen beiden. Valentinian wurde in seinem 392.
Bette ermordet und Arbogast hoffte durch Ernennung eines schwachen, von
ihm abhängigen Imperators (des Rhetors Eugenius) und durch Begünsti-
gung der alten Volksreligion sich in der Herrschaft des Abendlandes behaup-