1. Bd. 2
- S. 291
1854 -
Leipzig
: Engelmann
- Autor: Weber, Georg
- Auflagennummer (WdK): 6
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schulanstalt, Selbstunterricht
- Inhalt Raum/Thema: Weltgeschichte
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Jungen
Die Literatur der Aufklärung.
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begründen. Seine Worte sind der Ausdruck eines tiefen innern Gefühls und dringen zum
Herzen, weil sie von Herzen kommen ; daher war auch die Wirkung feiner Werke besonders
bei den Frauen unbeschreiblich. Ihrem Einfluß ist es zuzuschreiben, daß es in Frankreich
wieder Mütter gab, daß wieder Liebe und Häuslichkeit in die Familien einkehrte und daß
in den Mittlern Ständen Natur, Einfachheit und Sittlichkeit der Verschrobenheit, Unsitt-
lichkeit und Uebersättigung der höhern Klassen entgegentrat. Dadurch sühnte Rousseau die
Sünde, die er gegen seine eigenen Kinder, welche er ins Findelhaus bringen ließ, begangen.
Selbst in der Musik, über die er geistreiche Ideen aufgestellt, ging er auf Natur und
Einfachheit zurück. Daß Rousseau vor dem Kirchenthum und dessen Satzungen wenig Ehr-
furcht hatte, geht schon daraus hervor, daß er feinen Glauben zweimal wechselte. Doch
trieb er damit nicht wie Voltaire einen leichtfertigen Spott, sondern er lehrte eine Religion
des Herzens und Gefühls. Er suchte vom Christenthum das Unwesentliche abzustrcifen,
um den Kern zu retten und ging auch hier wie überall zur Einfachheit, Natur und Ver-
nunft zurück. Aber so sehr auch das Glaubensbekenntnis) eines savoyischen Vicars
im Emil Rousseau's Achtung vor Religion beurkundete, so zog ihm doch die freie Haltung
der herrschenden Kirche gegenüber die Verfolgungen der rechtgläubigen Katholiken und
Protestanten zu. Das Buch wurde durch richterlichen Spruch von Henkers Hand verbrannt
und er selbst zur Flucht aus Frankreich gezwungen.
Der Holbachische Club und die Eneyclopädisten. Eine Anzahl talentvoller
Schriftsteller, die sich häufig bei dem deutschen Baron Holbach in Paris versammelten,
gingen im zerstörenden Eifer am weitesten. Mehrere Werke, wie z. B. das Natursystem,
als dessen Verfasser Holbach selbst galt, und das Buch des Generalpächters Helvetius
„vom Geist" suchten die Ewigkeit der Materie zu beweisen (Materialisten) und Ei-
genliebe und Selbstsucht als die einzigen Triebfedern menschlicher Thätigkeit darzustellen.
Solche Lehren, die alles Höhere zu zerstören drohten, die Tugend und Moral für Thorheit
erklärten, die Gemüth und Phantasie tödteten und Befriedigung der Sinnlichkeit als Weis-
heit priesen, erregten den Unwillen aller Gutgesinnten. Dennoch bewunderte die höhere
Gesellschaft, nicht blos in Frankreich, sondern in ganz Europa, den Verstand und leicht-
fertigen Witz dieser Schriftsteller, las ihre Werke mit Entzücken und nahm ihre Grundsätze
an. Eine ähnliche zerstörende Richtung hatten die sogenannten Encyclopädisten, d. h. die
Verfasser des von dem geistreichen, leichtfertigen Diderot und dem Mathematiker und
Philosophen d'alembert geleiteten ency.clopädischen Wörterbuchs, eines Werks,
das als Uebersicht alles menschlichen Wissens klar, großartig und frei, aber jedem höhern
Streben feindlich war.
3. Wirkungen.
§. 672. Der Einfluß dieser Männer auf die Denkart von ganz Europa war
um so größer, als damals Paris in allen Dingen den Ton angab, als die franzö-
sische Sprache und Literatur in den höhern Kreisen allein gesprochen und gelesen
ward und diese Schriften durch ihre gefällige Form und geistreiche Darstellung
allgemeines Interesse erregten. Regenten, wie Friedrich Ii., Gustav Iii. von
Schweden, Karl Iii. von Spanien, Katharina Ii. von Rußland, Staatsmänner,
wie Pomdal, Choiseul, Aranda u. A., die einflußreichsten Personen aller Stande
und Nationen standen mit den meisten dieser Schriftsteller in persönlichem oder
brieflichem Verkehr und bewunderten ihre Werke. Die nächste Folge war, daß in
den meisten Staaten Religionsduldung eingeführt wurde, daß man Aberglauben
und Vorurtheile zu vertilgen suchte und daß mehrere Fürsten und Minister kühne
Reformen mit dem Bestehenden Vornahmen; eine zweite Folge aber war, daß das
französische Volk die Ehrfurcht vor dem Heiligen und die Achtung vor dem Her-
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