1. Bd. 2
- S. 615
1854 -
Leipzig
: Engelmann
- Autor: Weber, Georg
- Auflagennummer (WdK): 6
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Schulanstalt, Selbstunterricht
- Inhalt Raum/Thema: Weltgeschichte
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Jungen
Die deutschen Verfassungskämpfe.
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Ansichten/ als das Ministerprogramm vonkremsier aufgestellt, zur Geltung zu
bringen. Zum Bevollmächtigten Oestreichs bei der Centralgewalt ernannt erschien
der gewesene deutsche Ministerpräsident, der indessen vor seinen Wiener Wählern
in jener merkwürdigen Rede das Bekenntniß abgelegt, daß ihm die Aufrechthal-
tung der Integrität des östreichischen Staats „das Höchste und Wichtigste im
Leben sei", nach Neujahr wieder in Frankfurt und überreichte eine Note seiner
Regierung, worin die Behauptung ausgesprochen war, Gagern habe jenes
Novemberprogramm von Kremsier falsch ausgelegt. Ohne sich über die künftige
Gestaltung der östreichischen Monarchie im Geringsten auszulassen, behielt sich die
Olmützer Regierung ausdrücklich die Freiheit des Eintritts in den Bundesstaat
vor, verbat sich den blos „gesandtschaftlichen Verkehr" und „gab endlich der
Centralgewalt so wie der Nationalversammlung die Lehre, daß die gedeihliche
Lösung des deutschen Verfassungswerks nur auf dem Wege der Verständigung
mit den deutschen Regierungen, unter welchen die kaiserliche den ersten Platz ein-
nehme, zu erreichen sei." Der Eindruck, den diese Note und das versteckte Be-
nehmen Schmerlings auf die Nationalversammlung machte, war dem Gagern-
schen Plan günstig und zog viele Mitglieder auf seine Seite. Der Weg der Ver-
einbarung, der hier vorgezeichnet war, verletzte die Verfechter der Nationalfouve-
ranetat. Und als nun Gagern selbst die Scharfe seines Programms durch einige s.jan.
Modisicationen milderte, indem er das Ausscheiden Oestreichs nicht als bereits
erklärt annahm und den Antrag vom 18. December dahin abänderte, „daß das
Ministerium ermächtigt werde, zu geeigneter Zeit und in geeigneter
Weise mit der Regierung des östreichischen Kaiserreichs, Namens der Central-
gewalt, über das Verhaltniß Oestreichs zu Deutschland in Verhandlung zu tre-
ten", so versöhnte sich die Mehrheit der Versammlung allmählich mit dem Ge-
danken. Zwar war der zur Prüfung des Antrags niedergesetzte Ausschuß der
Mehrzahlnach gegnerisch gesinnt, und der gewandtedialektiker v. Wy d enb ru gk
aus Weimar deckte die Blößen des Plans mit Kunst und Geschicklichkeit auf;
aber Beckerath's warnende Worte, daß „das Warten auf Oestreich das Ster-
den der deutschen Einheit" sei; Vincke's kräftige Unterstützung und vor Allen
G agern's versöhnende und überzeugende Rede selbst verschafften seinem Antragzan.
den Sieg. Die nationale Einheitsidee, ein so mächtiger Faktor bei der Neu-
gestaltung Deutschlands, widerstrebte dem Gagern'schen Plane und wie verschie-
den auch die Beweggründe der Widersacher waren, sie fußten alle auf diesem
einen vaterländischen Grunde. Aber die Geschichte des deutschen Volks in so
vielen drangsalvollen Jahren schien die warnende Lehre zu begründen, daß nur
dann ein gesundes, freies und starkes Staatsleben in Deutschland erblühen
könne, wenn es sich von Oestreich „emancipire." Wie sehr also die Gagern'sche
Partei auch bemüht war, den Vorwurf einer „Theilung Deutschlands" von sich
zu weisen, das Endergebniß ihres Strebens war, wenn es zum Ziel kam, eine
Trennung der beiden Bundesstaaten. Sie brachten ein gefährdetes Glied zum
Opfer, um dem übrigen Körper wieder Gesundheit und neue Lebenskraft zu
verleihen. —
§. 869. Die deutsche Reichsverfassung. Mittlerweile war die
deutsche Reichsverfassung ihrem Abschluß nahe gekommen und auch die zweite
Lesung der „Grundrechte" wurde noch vor Ablauf des Jahres 1848 zu Ende ge-
führt. In einigen Punkten hatte man eine gemäßigtere Fassung erlangt, aber die
Aufhebung der Todesstrafe, und der vage Satz, „daß Niemand verpflichtet sei,
seine religiöse Ueberzeugung zu offenbaren", war noch ein Zugeständnis an die auf
dem Boden des Humanismus und der schrankenlosen Freiheit fußende Linke.