1. Bd. 5
- S. 56
1845 -
Leipzig
: Kollmann
- Autor: Fortmann, Heinrich
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
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hauptsächlichste Gegenstand seines Zornes war die Beharrlichkeit,
mil welcher mein Bruder sich zu unterwerfen verweigerte, und
das war nicht des armen Prinzen Schuld; die Königin hatte es
ihm geboten. Der König schimpfte fort bis an den Abend, wo
er endlich in seine Nauchgesellschaft ging und dabei sagte, daß
er nicht zu Abend essen wolle. — Sobald wir in der Königin
Zimmer zurückgekehrt waren, befahl sie mir, meinem Bruder
alles Vorgefallcne zu schreiben und den Entwurf eines Briefes
beizulegen, in welchem er den König um Verzeihung bitten sollte.
Ich war ruhig mit Schreiben beschäftigt und fast fertig, als
ich den König kommen hörte; denn er hatte einen so schweren
Schritt, daß es immer klang, als sey er gestiefelt. Mein
Schrecken war unbeschreiblich. Doch verlor ich den Kopf nicht,
sondern steckte meinen Brief hinter ein mir zur Seite stehendes
chinesisches Kästchen, und meine Hofmcisterin brachte die Federn
und das Sandfaß in Sicherheit. Da der König schon ins
Zimmer trat, hatte ich nur noch Zeit, das Tintenfaß in meine
Tasche zu stecken, wo ich cs mit der Hand hielt. Das Alleö
war die Sache eines Augenblicks. Der König sagte der Königin
einige Worte und nahete sich dem chinesischen Kästchen. „„Das
Ding ist sehr schön, —sagte er zu ihr — ich schenke es Ihnen;""
zugleich zog er am Schlosse, und ich sah den Augenblick, wo
mein Brief herunterfallcn und entdeckt werden würde. Halb
lobt vor Schrecken zog die Königin meinen Vater auf die andere
Seite und zeigte ihm ihren kleinen Hund und den mcinigen.
„„Sehen Sie — sagte sie — meine Tochter behauptet, ihr
Hund sey hübscher, als der meinige, seyn Sie doch Schieds-
richter."" Er lachte und fragte, ob ich meinen Hund sehr lieb
hätte. „„Wohl, — antwortete ich — denn er hat viel Geist
und Verdienste."" Meine Antwort machte dem Könige so viel
Freude, daß er mich in die Arme schloß, und ich — o unseliges
Schicksal! — mußte das Tintenfaß fahren lassen, dessen Inhalt
sich sogleich über meine Kleider und den Fußboden ergoß. Ich
rührte und regte mich nicht. Glücklicher Weise befreite uns der
König aus der peinlichen Verlegenheit, indem er fortging. Die
Tinte war mir bis auf's Heinde durchgedrungcn; ich mußte
gelaugt werden, und wie die Gefahr vorüber war, machte uns
der Vorfall herzlich zu lachen. — Indes; versöhnte sich der König mit
meinem Bruder, der wenige Tage darauf nach Potsdam abging, "