1. Bd. 3
- S. 138
1844 -
Leipzig
: Kollmann
- Autor: Fortmann, Heinrich
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
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bung wegen jeder Nachlässigkeit. Mit Thränen im Auge bat
auch diese ihre Diener um Verzeihung wegen jeder Beleidigung,
welche sie ihnen etwa zugefügt habe. Maria hatte Sinn und
Dankbarkeit für die Treue ihrer Untergebenen; sie ging noch ein-
mal ihr Testament durch, worin sie dieselben bedacht hatte. Bei
jedem Stücke ihrer Kleider und Juwelen schrieb sie auf, wem
dasselbe von ihr bestimmt sey, und empfahl noch eigenhändig ihre
Bedienten dem König von Frankreich und dem Herzog von G u i se,
welchen Letzteren sie zum Vollstrecker ihres Testaments ernannte»
Zur gewohnten Zeit legte sie sich nieder, schlief einige Stunden
und brachte den übrigen Thcil der Nacht im Gebete zu. Da
man ihr einen katholischen Priester versagt hatte, so genoß sie
mit kindlicher Andacht eine von dem Papst Pius V. gcweihcte
Hostie, die sie schon vor einiger Zeit erhalten hatte. Als der
Morgen angebrochen, kleidete sie sich in ein Sammetklcid, so
prachtvoll, als sie cs an festlichen Tagen gethan, um, wie sie
sagte, in den bevorstehenden Augenblicken ihrer Würde gemäß
zu erscheinen.
Zur bestimmten Stunde trat der Sherif der Grafschaft,
Thomas Andrews, in's Zimmer und kündigte ihr an, daß
esui^ftsti ^Ich bin bereit" — crwicdcrte Maria — und
folgte ihm mit ruhiger Miene, gestützt auf die Schultern zweier
Bedienten Paulets; denn eine Krankheit Ehatte ihre Kräfte
erschöpft. Ihr Haar war mit einem Schleier bedeckt, der bis
zur Erde herabfiel. Am Gürtel hing der Rosenkranz; in der
Hand hielt sie ein elfenbeinernes Crucifix und ihr Gebetbuch.
Im Vorsaale empfingen sie die Grafen, in deren Begleitung sie
ihren Haushofmeister Mclvil fand. Dieser unerwartete Freund
hätte sie doch fast aus der Fassung gebracht. Er warf sich
schluchzend ihr zu Füßen, küßte den Saum ihres Kleides und
rang trostlos die Hände bei dem jammervollen Anblicke. „O
Gott, wie unglücklich bin ich! — rief er aus — Hat je ein
Mensch eine solche schreckliche Botschaft überbracht, wie ich sie
bei der Zurückkunft in mein Vaterland überbringen werde, daß ich
meine Königin enthaupten sah!" Mehr ließ ihn der Schmerz nicht
sprechen. Maria ermahnte den treuen Diener mit dem sanftesten
undfrömmsten Zuspruche, küßte ihn, wollte ihn trösten und — weinte
selbst. Sie gab ihm Aufträge an ihren Sohn [und bat ihn
hierauf, ihr in dieser letzten Stunde mit seinem Gebete beizuftehen.