1839 -
Stuttgart
: Literatur-Comptoir
- Autor: Böttiger, Carl Wilhelm
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Geschichte
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auch bald eine natürliche Unruhe und Neuerungssucht und eine gewisse Unbiegsam-
keit, so daß seine große Mutter einem Künstler sagte: „Ich lehre meinen Sohn die
Kunst lieben, damit er milder werde, denn er ist störrisch." Seine Empfänglichkeit
für neue Ideen, wie die der Physiokraten, für das Arrondirungsstpstem, konnte sich
allerdings in einer Zeit, wo er selbst in seiner Thätigkeit sehr eingeengt, zwar wohl
äußern, jedoch noch nichts bewirken; aber „sein Kopf war, meint Friedrich, wie
eine Niederlage, in welcher Staatsberichte, Entwürfe, Beschlüsse verworren unter
einander aufgespeichert lagen." Einem Eilboten mit einem Befehl folgte sehr häufig
ein zweiter mit einer Einschränkung, und fast jedes Gesetz erlitt bald wieder nach-
trägl che Veränderungen. „Schade, sagte Friedrich, daß er immer den zweiten
Schritt thut, ehe er den ersten gethan hat." Wenn zu dieser Raschheit der Ent-
würfe noch zum Theil neuer und noch unerprobter Maximen häufig auch ein Miß-
achten der öffentlichen Meinung oder des Herkommens, ja selbst urkundlicher Rechte
und Freiheiten hinzukam; wenn vieles Neue, dem historisch Begründeten schroff
gegenüber, gleichsam im Sturinschritt eingeführt werden sollte; wenn der Kaiser
Säemann und Schnitter zugleich sein oder gleich auch im Schatten der Bäume
ruhen wollte, die er kaum gepflanzt: so mußte diese Weise ihn, auch die beste Ab-
sicht, den redlichsten Willen, den heißesten Wunsch für das Glück seiner Völker bei
ihm vorausgesetzt, in ein Labyrinth von Reformationsverwicklungen, in einen
Kampf des Neuen nüt dem Alten führen, dessen Ausgang bei jenen über dem
Rheine bald immer lauter gepredigten Lehren von Volkssouvcrainetät, Gesellschafts-
vertrag, Urrechtcn u. s. w. sehr bedenklich werden konnte. Joseph hat am Ende
einer schwer getrübten Sclbftregierung von 1780—1790 gewünscht, man solle ihm
die Grabschrift setzen: Hier ruht ein Fürst, dessen Absichten rein waren, der aber
das Unglück hatte, alle seine Entwürfe scheitern zu sehen.
Die nächsten Jahre nach dem 7jährigcn Kriege suchte sich Deutschland von den
erfahrnen Leiden zu erholen und trieb auch bald wieder die kräftigsten Blüthen und
Früchte in jeglichem Zweige der Eultur. Für das Reich suchte Joseph eine ver-
besserte Gerechtigkeitspflcge zu begründen und beseitigte wenigstens 5. Apr. 1766
mehrere Mißbräuche. Aber die Beschleunigung des Rcchtsgangcs bewirkte weder
seine dringende Empfehlung, noch die 1767 cröffnete Visitation des Reichskammer-
gerichts, die nach 10 Jahren uubcendigt abgebrochen wurde. Je ruhiaer es nach
innen' war, desto mehr kesselten aber bald die Schicksale eines Nachbarstaates die
deutschen und die europäischen Fürsten und wurden bald nur zu einflußreich auf
die neuere Geschichte Deutschlands und Europa's.
Polen hatte 1763 seinen 2tcn König aus dem sächsischen Hause verloren
und von Rußlands Katharina einen neuen einheimischen König in ihrem Liebling
Stanislaus August Poniatowsky bekommen, nachdem sie sich mit Preußeu in engem
Bunde gegen die Wahl eines Sohnes des vorigen Königes erklärt hatte. Der
neue König stand gänzlich unter Rußlands Vormundschaft, und ein russisches Heer
stets bereit, weniger ihn zu unterstützen, als den Einstuß der Kaiserin in Polen
aufrecht zu erhalten. Das unglückliche nie pozwalam (ich gestatte es nicht), wel-
ches 1652 zuerst ein Landbote aussprach, und welches jeden Beschluß ungültig ma-
chen, jeden Reichstag zerreißen konnte, war ein Wort des Fluchs für Polen gewor-
den. Die verständigsten Beschlüsse vereitelte die Leidenschaft, Trunkenheit oder
Wahnsinn eines Einzelnen, und so waren auch seit 37 Jahren alle Reichstage zer-
rissen worden. Einen neuen Zunder der Anarchie gaben die Dissidenten oder Nicht-
katholiken ab, die seit 1717 in ihren Rechten gekränkt und auf das Aeußerste ge-
drückt worden waren. Katharina glaubte sich ihrer annehmen zu müssen; hatte sie
doch damit nicht nur den Ruhm der Toleranz in den Kauf, sondern cruch eine stets
ihr zugethane Partei. Auf dem Reichstage von 1764 saßen sogar fremde Soldaten