1827 -
Leipzig
: Brockhaus
- Autor: Meynier, Johann Heinrich
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Inhalt Raum/Thema: Europäische Geschichte
29.2
Eduard gönnte Marien, ihres finstern und häßlichen
Charakters wegen, nicht die Negierung, und setzte die junge
und liebenswürdige Johanna Gray,'die Enkelin einer
Schwester seines Vaters, zur Thronerbin ein. Er war mit
ihr ausgewachsen, war mit ihr unterrichtet und oft von ihr
übertroffen worden; er liebte sie und ahnete nicht, daß er
ihr statt einer Krone den Todtenkranz aufsetzte. —
Johanna war erst sechzehn Jahre alt, und noch lebte
Eduard, als sie sich mit dem eben so liebenswürdigen
Sohn eines Herzogs von Northumberland, Euilford
Dudlcy, vermahlte. Nie erschienen Jugend und Unschuld
schöner in einem Brautpaare. Eduard bot Alles auf, das
Hochzeitfestzu einem der glänzendsten zu machen, und ganz
London war begeistert von dieser Verbindung. Dessen un-
geachtet wurde Jo Hannens Thronbesteigung von dem
Volke mit Kalte ausgenommen, und sie selbst erkannte sie
für widerrechtlich.
Als man ihr daher nach Eduards Tode ihre Erhebung
ankündigte, als ihr eigener Vater, Graf von Suffolk,
und ihr Schwiegervater, Herzog von Northumberland ,
sie, nach der Landessitte, auf den Knieen als Königin be-
grüßten, bot sie alle ihre Beredtfamkeit auf, eine Würde
abzulehnen, die ihr nicht gebührte, und der sie sich nicht
stark genug fühlte, zu genügen. Sie erinnerte sich des
Schicksals der Katharina von Aragonien und der
noch unglücklicheren Anna Boleyn; sie wollte ihre Frei-
heit, ihren Frieden nicht mit goldenen Fesseln vertauschen,
sie bat innig, wenn man sie liebte, sie keinen Stürmen
auszusetzen.
Ganz anders aber dachte der stolze und ehrsüchtige
Northumberland, und selbst ihr junger Gemahl, der
gern die, die er aufs höchste liebte, auch auf der höchsten
Stufe der Ehre gesehen hatte, und so ließ er es an Bitten